Das doppelte Simchen

Teil 1

Als ich wieder ins Büro nach Sim City fuhr, war ich wie gerädert. Ich hatte die letzten drei Tage nicht richtig geschlafen, weil mir zu viel im Kopf herumgefahren war. Was war in so einer Situation richtig? Sollte ich nicht doch zu den Experten von der Polizei gehen? Die wüssten doch, was sie machen mussten. Aber dann hatte ich immer Angst bekommen, dass der Täter auch die Adresse meines Wohnortes wusste und somit jederzeit meiner Familie etwas antun konnte. Nicht auszudenken! Ich hoffte inständig, dass dieser Albtraum bald wieder aufhören würde.

 

Ich grüßte meine Sekretärin, als ich an ihr vorbeiging, und sie reichte mir sofort wichtigen Schriftverkehr, den ich bearbeiten sollte. Ob da wieder ein Erpresserbrief dabei war?

 

Habe ich übrigens schonmal erwähnt, dass ich mich wie verkleidet vorkam, wenn ich in den Büroklamotten herumlief?

Ich sichtete die Post und stellte erleichtert fest, dass kein neuer Brief des Erpessers dabei war. War das alles nur blinder Alarm gewesen? Ein Irrer, der sich einen Spass erlaubt hatte? Also ich konnte darüber nicht lachen.

 

Ich machte mich also an die Arbeit. Einer der Briefe verwirrte mich. Es ging um eine Stiftung, bei der meine Firma in der Vergangenheit laut Schrieb wohl regelmäßig eine höhere Summe Geld überwiesen hatte. Davon wusste ich nichts, also wählte ich die Nummer meiner Großeltern, um mehr darüber zu erfahren. Doch die waren leider nicht erreichbar. Hm. Vielleicht konnte mir Lindthof etwas dazu sagen? Ganz bestimmt sogar, Mr. Superman wusste ja sonst auch immer alles.

Also ging ich zu meiner Sekretärin und sagte ihr, dass sie Lindthof Bescheid geben sollte, dass er in mein Büro kommen sollte, wenn er Zeit hatte.

Er ließ lange auf sich warten, also arbeitete ich meinen Stapel Papiere ab, führte Telefonate und ging die Unterschriftenmappe durch. Irgendwann machte ich eine Pause und blickte voller Gedanken nach draußen.

 

Genau in diesem Moment stürmte mein Geschäftsführer in mein Büro, ohne anzuklopfen. Perfektes Timing, und so höflich wie immer.

"Tut mir leid, Frau von Hohenstein, dass ich erst jetzt komme, aber ich hatte noch einen Außentermin", sagte er entschuldigend, doch seine Stimme hörte sich keineswegs so an, als wenn ihm etwas leid täte.

"Setzen sie sich", sagte ich kühl. Und raffte meinen Mut zusammen, um ihm die nächsten Worte ohne ein zittern in der Stimme sagen zu können:

"Ich möchte sie bitten, in Zukunft anzuklopfen, bevor sie in mein Büro kommen". So, jetzt hatte ich es gesagt. Es konnte ja nicht angehen, dass er hier reinstürmte, wann er wollte. Er sah mich kurz ungläubig an, sah aus, als wollte er protestieren, was ich absolut frech fand, dann sagte er:

"Ja, in Ordnung. Sie wollten etwas wissen?"

"Ja. Es geht um diesen Brief hier, eine Stiftung, die auf die nächste Zahlung wartet. Wissen sie etwas darüber?". Ich reichte Lindthof den Brief und wartete, bis er ihn überflogen hatte.

"Ja, ihr Großvater ist Schirmherr dieser Stiftung, die sich darum kümmert, dass es genügend Obdachlosenheime gibt". Hä? Mein Großvater war der Schirmherr dieser Organisation? Und stiftete regelmäßig Geld? Das sah ihm gar nicht ähnlich!

"Tatsächlich?", rutschte es mir dann auch prompt heraus, was nun wirklich nicht hätte sein müssen. Mein Geschäftsführer sah mich zuerst wortlos an, dann sagte er:

"Ja. Das hatte mehr...", er räusperte sich kurz, "öffentlichkeitswirksame Gründe". Öffentlichkeitswirksam? Natürlich. Die Firma "von Hohenstein´s Garten- und Parkbedarf" hatte doch gleich positive Publicity, wenn der Firmeninhaber Schirmherr einer solchen Stiftung war. Und die Gelder ließen sich steuerlich absetzen, womit es eine wunderbare und obendrein recht günstige Werbung war.

"Ihr Großvater wollte immer das Beste für diese Firma", sagte Lindthof plötzlich.

"Natürlich", wiegelte ich kurz ab. "Das heißt für mich, dass ich jetzt ebenfalls Geld zu überweisen habe, richtig?"

"Richtig", antwortete Lindthof. "Sie müssen nur die Zahlung veranlassen, Frau Behringer weiß Bescheid".

"Gut", antwortete ich knapp und entließ meinen Geschäftsführer wieder. Wie er das nun wieder gesagt hatte! So, als könnte ich keine Überweisung selbst tätigen. ´Sie müssen nur die Zahlung veranlassen`bäffte ich ihn in Gedanken nach. So nach dem Motto: Wenigstens das werden sie ja schaffen, oder? Meine Güte, ich war vielleicht nicht die beste Firmeninhaberin, aber ich machte diesen verdammten Job auch noch nicht lange. Der Kerl wusste das doch, wieso gab er mir immer das Gefühl, alles falsch zu machen? Ich hasste ihn dafür!

 

Ich musste seinen Vertrag von einem Anwalt prüfen lassen. Irgendwie musste es doch möglich sein, Lindthof zu entlassen, denn ich konnte mit diesem Mann nicht zusammenarbeiten.

Als ich eine Woche später wieder ins Büro kam, war der nächste Brief da. Ganz versteckt, völlig unschuldig, lag er unter einem Vorgang, den ich noch bearbeiten musste.

 

Das gleiche wie beim ersten Brief: An mich persönlich adressiert, ohne Absender, Computerausdruck.

 

Mir wurde schwindelig vor Angst und ich zitterte, als ich es endlich schaffte, das Papier aufzureißen und den säuberlich gefalteten Zettel herauszuholen.

 

 

Mir wurde augenblicklich schlecht. Ich schloss für Sekunden meine Augen und versuchte, meine Panik zu unterdrücken.

 

´Du musst einen klaren Kopf behalten... du musst einen klaren Kopf behalten...`, diese Worte sagte ich mir immer wieder selbst. Als ich es schaffte, meine Augen wieder zu öffnen, zerriß ich den Brief sofort und schmiß ihn in den Müll. Dieser Irre kannte sich in meiner Familie aus, das machte mir unglaubliche Angst. Er wusste, dass Mandy bei der Polizei arbeitete, dass sie nun mit mir verwandt war. Und wenn er das wusste, wusste er auch anderes, soviel stand fest. Dieser Kerl musste mich und mein Leben ja richtig ausgekundschaftet haben.

 

Oder es war jemand, den ich kannte.

Ich stand stocksteif da, als mir die Tragweite dieses Gedanken bewusst wurde. Aber es konnte fast nicht anders sein. Mein Erpresser kannte mich.

 

Doch wer war zu soetwas fähig? In meinem Kopf drehte sich alles, und ich konnte kaum nachdenken. Ich musste mich erst einmal beruhigen und orderte bei Frau Behringer einen Tee.

Ich wärmte meine zitternden Hände gerade an der warmen Tasse, als es an meiner Tür klopfte. Ich fuhr erschrocken zusammen und besann mich darauf, dass ich hier bei der Arbeit war.

"Herein", sagte ich mit versucht kräftiger Stimme, die sich aber nur sehr kläglich anhörte. Die Tür ging auf und Lindthof trat ein. Der hatte mir gerade noch gefehlt. Aber nett, dass er diesmal angeklopft hatte. Wenigstens das funktionierte nun.

"Frau von Hohenstein", begann er und ich wies ihm einen Stuhl, "es tut mir leid, dass ich sie stören muss, aber ich wollte mit ihnen über den Vorgang auf ihrem Tisch sprechen. Das ist sehr wichtig". Natürlich. Alles war irgendwie immer "sehr wichtig" was auf meinem Tisch landete. Meine Schläfen pochten.

Ich stellte meine Teetasse ab und betrachtete die Papiere auf meinem Schreibtisch. Das waren Ausdrucke mit sehr vielen kleinen Zahlen. Was wollten die mir sagen? Ich verstand gar nichts mehr, sah auf, und blickte Lindthof wohl leicht verwirrt an.

"Das sind die Berichte der Sachverständigen, die erechnet haben, was für Kosten auf uns zukommen, wenn wir die neue Warengruppe der natürlichen Schädlingsbekämpfungsmittel in unser Programm aufnehmen würden". Wieder blickte ich auf die Papiere. Okay, das war das also. Ich versuchte mich zu konzentrieren und erkannte nun doch so einiges. Ich selbst hatte diesen Punkt in der letzten Vorstandssitzung angesprochen, weil ich wusste, dass mein Vater irgendwann vor langer Zeit einmal diese Idee gehabt hatte, diese jedoch nie umgesetzt wurde. Ich fand die Idee jedoch ebenfalls sehr gut und hatte nun das Rad ins Rollen gebracht. Aber was sagten mir nun diese Zahlen?

"Und? Zu was für einem Ergebniss sind die Experten denn gekommen?", fragte ich. Plötzlich stand Lindthof auf und kam zu mir. Er stand ziemlich dicht, zu dicht für meinen Geschmack, und begann, in den Papieren zu blättern.

"Sehen sie hier: Die Kosten für so eine Produkterweiterung wären enorm". Er zeigte mir die Zahlen. "Außerdem stehen die Kosten zum tatsächlichen Nutzen in keinem günstigen Verhältnis. Diese Mittel würden sicher gut funktionieren, allerdings wäre die Gewinnspanne für unsere Firma nicht besonders hoch. Schon gar nicht, wenn man bedenkt, dass eine neue Produktgruppe auch dementsprechend beworben werden muss". Wieder zeigte er mir die Zahlen.

Ja, ich sah es auch. Die Entwicklungskosten waren hoch, Gewinn würde tatsächlich vor allem im ersten Jahr nicht viel abgeworfen werden. Und trotzdem wollte ich diese Warengruppe einführen. Das waren wir nicht nur unseren Kunden, sondern auch der Natur schuldig.

"Danke, jetzt sehe ich es auch", sagte ich möglichst geschäftsmäßig und die Worte erreichten, dass sich Lindthof wieder setzte.

"Ich weiß, dass diese Produkte nicht viel Gewinn abwerfen werden", begann ich, "aber ich möchte dies trotzdem machen", sagte ich bestimmt. Natürlich musste mir mein Geschäftsführer widersprechen.

Er sah mich mehr als skeptisch an, als er sagte:

"Was hat denn unsere Firma davon? Abgesehen von den immensen Kosten?"

"Man muss auch einmal etwas machen, ohne Dollarzeichen in den Augen zu haben!", widersprach ich heftig. Lindthof zuckte zusammen und ich atmete langsam ein und aus. Ruhig Blut, sagte ich mir. Sonst erkannte ich mich selbst nicht wieder.

"Hören sie", sagte ich ruhiger und war stolz auf mich, dieses Kunststück in diesem Moment zu schaffen. "Mir ist völlig klar, dass wir dadurch unsere Bilanzkurve nicht in schwindelerregende Regionen katapultieren werden. Aber ich finde diese Sache wichtig. Es wird Zeit, dass unsere Firma auch diese Produkte auf dem Markt hat. Jede x-beliebige Garagenfirma hat inzwischen Schädlingsbekämpfer auf dem Markt, und wir werden uns durch die gute Umweltverträglichkeit gepaart mit einem Preis, der kundenfreundlich ist, abheben. Deshalb möchte ich, dass wir so bald wie möglich mit der Entwicklung beginnen". Ich hielt inne und wartete, wie Lindthof darauf reagieren würde.

Er seufzte kaum merkbar auf.

"In Ordnung. Ihre Argumente sind natürlich nachvollziehbar. Ich muss in dieser Sache eben ein wenig umdenken, denn schließlich wurde ich hier eingestellt, um der Firma möglichst viel Gewinn zu erwirtschaften. Aber bei dieser Sache geht es wohl mehr um das Image der Firma, was ja ebenfalls ein sehr wichtiger Punkt ist. Hm. Vielleicht bekommen wir so auch neue Kundengruppen. Gut, ich werde mich mit der Entwicklungsabteilung treffen, um alles zu besprechen". Er wollte schon aufstehen, als ich sagte:

"Nun, den Entwickler für diese Produkte habe ich schon an der Hand, um das brauchen sie sich nicht mehr zu kümmern". Nun sah er mich wirklich erstaunt an.

"Sie haben schon jemanden?"

"Ja", antwortete ich knapp. Pause.

"Und der kennt sich...", er räusperte sich, "mit Pflanzen, Schädlingen und so weiter aus?".

"Natürlich!", sagte ich. Was glaubte dieser Mensch eigentlich? Dass nur er etwas wusste?

"Gut, dann entfällt schonmal die Stellenausschreibung. Ist mit dem Gehalt schon alles geklärt?"

"Auch das. Der Mann arbeitet umsonst". Dieser Mann wusste zwar noch nichts von seinem Glück, aber ich war mir sicher, dass er mir helfen würde. Und wenn es nur darum ging, dem feinen Herrn Geschäftsführer eins auszuwischen. Außerdem tat mir gerade dessen verblüfftes Gesicht und sein erstaunter Blick mehr als gut.

"Welcher Entwickler, Chemiker, Wissenschaftler oder was auch immer, würde denn für uns kostenlos an so einem riesigen Projekt arbeiten?", wollte Lindthof dann auch wissen.

"Mein Vater", ließ ich endlich die Bombe platzen und Lindthof war wirklich für einen Moment peinlich berührt, bevor er sich wieder im Griff hatte.

"Verzeihung, Frau von Hohenstein. Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen. Ihr Vater wird in diesem Projekt mehr als kompetent sein. Hat er nicht sogar einmal im wissenschaftlichen Institut in Sunset Valley gearbeitet? Und dort diesen unglaublichen Bericht über den Zasterus Klunkerikus geschrieben?". Meine Güte, was dieser Lindthof alles über unsere Familie wusste. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass er ein Fan von uns war. Er sammelte ja praktisch alle Informationen. Irgendwie...

 

Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich erstarrte.

 

Lindthof war es.

 

Der Erpresser. Er wusste alles, wirklich alles über uns. Aber warum machte er das? Ging es ihm um die Firma? Mehr als möglich. Immerhin war er anfangs noch so überaus nett zu mir gewesen, und irgendwann hatte sich das geändert. War der Wechsel ab dem Zeitpunkt gekommen, als er wusste, dass ich die neue Inhaberin werden würde? Hatte er etwa darauf spekuliert, unsere Firma komplett zu übernehmen? Und dann war ich ihm vor die Nase gesetzt worden, was ihm wohl nicht in den Kram gepasst hatte. Ab da war er auch so arrogant zu mir gewesen. Der Kreis schloss sich.

Zuhause sah ich nach Sven, der friedlich in seinem Bettchen schlief. Ich sah ihn so selten. Was mir auf der einen Seite natürlich total leid tat, jedoch auf der anderen... Ich konnte es nicht leugnen, aber es viel mir immer noch schwer, ihn zu 100 % zu lieben. Denn leider erinnerte vieles an Svens Gesicht an diesen Mann, der mich so verletzt hatte. Wie sollte ich mein eigenes Kind richtig von Herzen lieben können, wenn es so aussah wie jemand, den ich verachtete? Dabei versuchte ich es wirklich. Auch jetzt streichelte ich zart über seine weiche Haut, um ihn nicht zu wecken. Er war mein Sohn, ich hatte ihn bewusst bekommen. Und es war Gott sei Dank nicht so, dass ich ihn nicht mochte, das nicht. Mein oberstes Gebot lautete, dass er niemals spüren sollte, dass er kein Wunschkind gewesen war.

Vier Wochen später war ich das reinste Nervenbündel. Ich hatte keinen weiteren Brief mehr von Lindthof erhalten, doch diese Warterei zerrte dermaßen an meinen Nerven, dass an Schlaf oder Ruhe nicht mehr zu denken war. Auch meine Schrifstellerei konnte ich vergessen, die Arbeit in der Firma wurde zur Tortur, da ich versuchte, Lindthof so gut es ging aus dem Weg zu gehen und jeden Tag, wenn ich dort war, ängstlich auf den Schreibtsich starrte um zu sehen, ob ein neuer Brief gekommen war. Lindthof musste es genießen mich so zu sehen.

Und gerade jetzt kam die Sache mit den Schädlingsbekämpfern richtig ins Rollen. Mein Vater hatte zugestimmt, der Firma in der Entwicklung zu helfen, was mich wirklich gefreut hatte. Er hatte zwar immer wieder solche Dinge wie ´Jetzt muss ich doch noch in der Firma arbeiten, auf meine alten Tage!` gemurmelt, doch ich war mir sicher, dass er dort einen hervorragenden Job erledigen würde. Ich war unglaublich stolz auf ihn und wünschte, nur ein wenig von seinem Kämpfergeist vererbt bekommen zu haben.

Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter:

"Da ist Mama, schau!". Sven krabbelte durch die Tür, sah mich an, lächelte und brabbelte:

"Mama!"

"Ja, guten morgen, mein Süßer!". Ich nahm meinen Sohn auf den Arm und knuddelte ihn fest. Sein typischer Babygeruch stieg mir in die Nase, und ich spürte, wie ich mich entspannte. Es war Samstag, Sim City konnte mir heute gestohlen bleiben und ich hatte mir vorgenommen, heute viel mit Sven zu spielen.

Es fiel mir immer noch recht schwer, über diese unverkennbaren vererbten Gesichtszüge von Erich hinwegzusehen, aber ich sah nun auch anderes. Die Augen etwa, die er eindeutig von meiner Oma Lotte geerbt hatte, denn niemand sonst hatte so blaue Augen in unserer Familie wie sie. Und die Haare hatte er von mir. Er war Sven von Hohenstein, eine eigene Persönlichkeit. Das durfte ich nie vergessen.

Nach dem Mittagessen, als Sven sein Mittagsschläfchen hielt, rief ich Sam an.

 

Ich war mit den Nerven und meinem Latein am Ende und ich musste mit jemandem über Lindthof und die Briefe reden. Sam war dafür am Besten geeignet, wie ich fand. Zum einen war er mein bester Freund und in vielen Dingen auch mein engster Vertrauter. Dann wohnte er nicht hier, und ich hoffte inständig, dass Lindthof die Adresse meines Freundes nicht kannte. Ich wollte wirklich niemanden in Gefahr begeben, aber ich brauchte seinen Rat und seine aufmunternden Worte.

 

Also gingen wir spazieren.

Es dämmerte bereits, als wir den Blick über das Meer schweifen ließen. Ich hatte mich immer noch nicht getraut, etwas zu sagen. Aber hier war der beste Platz, wir waren endlich ganz allein.

"Meg, Liebes. Was ist mit dir? Du bist in der letzten Zeit so verändert. So angespannt. Hast du Probleme in der Firma? Oder wächst dir das alles über den Kopf?". Ich drehte mich zu ihm um. Sam hatte es also von selbst bemerkt, kein Wunder. Ich hatte ihm ja noch nie etwas vormachen können.

Schon allein wegen seiner tröstenden Worte stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich versuchte sie wegzublinzeln und sagte mit halb erstickter Stimme:

"Sam, ich habe große Probleme. Ich habe fürchterliche Angst". Er war sofort ganz Ohr.

"Was ist passiert?"

"Ich... oh Gott!". Ich schluchzte auf. "Ich werde erpresst!"

"Wie bitte???", fragte Sam erschrocken. "Erzähle mir alles!". Und das tat ich dann auch, endlich. Ich erzählte ihm von dem ersten Brief, von dem zweiten, dass der Erpresser unsere Familie scheinbar in- und auswendig kannte und ich deshalb Lindthof in Verdacht hatte. Ich erzählte von der Drohung, niemandem davon erzählen zu dürfen und ich nur noch ein Nervenbündel war. Außerdem versicherte ich ihm, dass ich unter keinen Umständen wollte, dass ihm etwas zustieß, ich aber hoffte, dass Lindthof ihn und seine Adresse nicht kannte.

"Das ist unfassbar!", murmelte Sam nach meinen Erzählungen und umarmte mich. "Das tut mir so leid! Wir finden eine Lösung, habe keine Angst!".

Es tat so gut, diese Worte zu hören, und ich schluchzte nun wieder los. Doch das war mir egal. Endlich, endlich hatte ich jemandem von diesem Problem erzählen können.

Sam ließ mich wieder los und sah mich fest an.

"Meine Gute, höre mir zu. Ich weiß noch nicht genau, was wir tun sollten, denn Polizei fällt erstmal flach. Anscheinend weiß Lindthof ja wirklich, was du tust, und wir werden ihn erstmal nicht reizen. Solange ich aber noch keine Idee habe, werde ich auf jeden Fall zu euch ziehen, um besser auf dich und deine Familie aufpassen zu können".

"Wa...as?", fragte ich verblüfft.

"Ich lasse dich in dieser Situation sicher nicht allein!", sagte er bestimmt.

"Aber... ich bin doch nicht alleine! Meine Eltern wohnen ja noch da"

"Die auch nicht mehr die Jüngsten sind, oder?", meinte Sam.

"Schon", musste ich zugeben. "Und was ist mit deinem Job? Und wer weiß, ob Lindthof nicht misstrauisch wird, wenn du plötzlich zu uns ziehst", versuchte ich ihn weiter zu überzeugen, dass er der ´Gefahrenzone` fernblieb. Doch Sam schüttelte den Kopf.

"Trotzdem. Wegen meines Jobs mache dir mal keine Sorgen, ich bin als Sportler hier in Sunset Valley ja viel flexibler als du. Und das ich zu dir ziehe - na und? Vielleicht bin ich ja dein Liebhaber, der endlich zu seiner Liebsten zieht". Ich war immer noch nicht ganz überzeugt.

"Ich möchte nicht, dass du in sein Blickfeld gerätst und dir möglicherweise etwas passiert, okay?", sagte ich ihm.

"Mir wird nichts passieren, Meg!", sagte Sam. "Gegen so einen Schreibtischtäter komme ich allemal an!".

"Lindthof ist trainiert, keine Ahnung wieso", sagte ich.

"Den schaffe ich schon", meinte Sam bestimmt.

"Und was ist mit deiner Mutter? Du kannst sie doch nicht alleine lassen!". Liane hatte zwar hin und wieder einmal eine Beziehung, aber etwas Ernstes schien das nie zu sein. Und im Moment war sie ohne Freund, wenn ich noch auf dem aktuellen Stand war. 

"Meg, ich bin ein erwachsener Mann und kann jederzeit aus meinem Elternhaus ausziehen, oder? Ich ziehe ja nicht hinter den Mond und kann meine Mutter regelmäßig besuchen gehen. Eigentlich ist es ganz gut, diesen Schritt mal zu machen. Ich kann doch nicht ewig bei Mutter leben! Früher oder später hätte ich mir sowieso was eigenes gesucht, ich wollte nur noch ein wenig Geld für ein Haus zusammensparen. Aber das kann ich ja auch bei dir, oder?". Dagegen konnte ich nichts mehr sagen, und so war es beschlossene Sache. Samuel würde zu uns in die Maienwald Gasse ziehen.

In den nächsten beiden Tagen packte er seine Dinge zusammen und zog bei uns ein. Er hatte nicht viel, was er mitnehmen wollte. Sam zog in den Keller in das Zimmer, das Erich bewohnt hatte. Doch Sam richtete es sich richtig gemütlich ein. Das war kein Vergleich mehr zu vorher. Als ich es begutachtete, sagte ich scherzend zu ihm:

"Wie kann jemand nur so krankhaft sportlich sein?". Er knuffte mich und meinte:

"Na, die Mädels stehen eben auf gestählte Muskeln, oder?"

"Also, ich nicht", sagte ich scherzhaft zu ihm, woraufhin er mich heftig durchkitzelte, so dass ich einmal wieder richtig lachen konnte.

Am nächsten Morgen nahmen wir das Frühstück also zu viert ein. Meine Eltern hatten auf Sams Einzug natürlich sehr überrascht reagiert, aber ich hatte ihnen etwas davon erzählt, dass Liane möglicherweise für längere Zeit verreist und ich Sam solange zu uns eingeladen habe. Sie hatten sich zwar gewundert, dass Liane ihnen nichts von den Reiseplänen erzählt hatte. Ich hatte dann gemeint, dass sie das bestimmt noch täte, sobald es konkreter wurde und wir das eben schon vorbeugend machten, damit Liane in ihrer Planung nicht behindert wurde. Ob sie es wirklich schluckten, wusste ich nicht, denn mein Vater hatte immer wieder von Sam zu mir und wieder zurück geschaut. Ich konnte mir denken, was er dachte. Sam wäre sicher der perfekte Schwiegersohn für sie... Nur schade, dass ich Sam nie so geliebt hatte, wie es sich für ein Liebespaar gehörte.

 

Die Liebe hatte so viele verschiedene Formen. Eltern liebten ihre Kinder, Kinder ihre Eltern, Geschwister sich gegenseitig so wie auch Freunde. Ich liebte auch Sam, aber eben auf die freundschaftliche Art. Er gehörte zu mir wie mein rechter Arm, ich wäre tieftraurig, wenn er nicht mehr hier wäre. Aber etwas entscheidendes fehlte: Die Leidenschaft. Ich hatte mir niemals vorgestellt, wie es wäre, ihn zu küssen und konnte es mir auch nicht vorstellen, intimer mit ihm zu werden. Ich wusste, dass wir beide einen Lachanfall bekommen würden, wenn wir nebeneinander in irgendeinem Bett liegen würden. Und das war nicht erotisch. Wir würden gut harmonieren, aber es wäre wie bei einem alten Ehepaar, bei dem die Luft raus ist, nur dass wir den Punkt mit der Erotik übersprungen hätten. Und das wollte ich nicht. Ich wollte dieses Knistern irgendwann einmal spüren. Und so war und blieb Samuel Potter mein bester Freund.

 

Sam hatte Liane erzählt, dass er zu uns zog, damit er meine Eltern etwas mit Sven entlasten konnte, weil ich in Zukunft für Seminare und Projekte auch öfters über Nacht wegbleiben würde. Auch sie hatte das sofort akzeptiert, was sicher nicht nur daran lag, dass unsere Eltern eng befreundet, sondern weil wir so oder so schon fast eine große Familie waren.

So also lebte sich Sam bei uns ein, was nicht so schwierig war, denn er war ja sowieso Dauergast bei uns gewesen. Da sich meine Eltern sehr gut mit ihm verstanden, gab es auch da keine Probleme. Und Sven kannte Sam schon von Anfang an und fremdelte kein bißchen, was mich natürlich freute.

So schön Sams Anwesenheit bei uns zu Hause auch war, ich ging trotzdem ängstlich in die Firma.

Jedesmal, wenn ich durch diese Tür in unsere Firma schritt, spannte sich ein Eisenring um meinen Magen. Ich bekam Herzrasen und begann zu zittern, da konnte auch das freundliche "Guten morgen!", von unserem Empfangschef Herr Ebers nichts mehr retten.

"Guten morgen Frau von Hohenstein", begrüßte mich Frau Behringer.

"Morgen, Frau Behringer", sagte ich matt. "Gibt es etwas Neues?"

"Nein, alles läuft rund. Ihr Vater war gestern da, wie sie sicher wissen, und hatte schon wunderbare Ideen für die neuen Produkte. Zumindest ist Herr Lohe richtig begeistert, und das will etwas heißen". Ich schmunzelte. "Ihre Post liegt auf dem Tisch. Ist heute nicht viel. Brauchen sie einen Kaffee?"

"Nein, vorerst nicht, danke", sagte ich und ging in mein Büro. 

Dort fiel mein Blick wie die letzten Wochen ganz automatisch zuerst zu meinen Schreibtisch. Und begann sofort zu zittern. Nicht viel Post hatte Frau Behringer gesagt.

 

Ja.

 

Es war ein Brief. Aber es war genau der, den ich nicht wollte. Ich blieb sekundenlang sitzen, ohne diesen Brief anzurühren. Schließlich schaffte ich es aber doch, ihn zu öffnen. Heraus kam wie immer ein mit dem Computer geschriebenes Blatt.

 

 

 

Immer und immer wieder las ich die wenigen Zeilen. Heute. HEUTE!

 

Meine Angst stieg in unermessliche Höhen auf. Minutenlang saß ich nur auf meinem Stuhl und starrte den Zettel an. Dann versuchte ich endlich, Sam auf dem Handy zu erreichen. Nur die Mailbox! Das Handy war aus! Das durfte doch nicht wahr sein. Ich sprach ihm auf die Box und schaute gehetzt auf die Uhr. Musste ich schon los? Vielleicht war es besser, denn ich durfte nicht zu spät kommen. Nicht auszudenken, was diesem Irren einfiel!

 

Ich sagte zu meiner Sekretärin, dass ich einen Außentermin hatte und erst spät wiederkam, dann rannte ich zu dem Geschäftswagen und fuhr davon.

Ich kam völlig fertig bei unserem Haus an. Mir fiel auf, dass das Haus immer noch unverändert renovierungsbedürftig war, weil ich in dem ganzen Stress vergessen hatte, mir Angebote von Firmen schicken zu lassen, die das alles hier aufhübschen sollten. 

 

Ängstlich sah ich mich um, doch von Lindthof war nichts zu sehen.

Ich ging um das Haus herum, um zu sehen, ob Lindthof hinten im Garten war, als ich erstarrte. Denn vor mir stand nicht Lindthof, sondern Gernot Lutzenbacher.

"Ah, die Frau Gräfin ist meiner Einladung gefolgt!", sagte Gernot grinsend. "Vielen Dank dafür!". Er verbeugte sich theatralisch.

"Gernot!", sagte ich und konnte es nicht glauben, ihn hier zu sehen. Ich erkannte augenblicklich meinen großen Irrtum: Gernot war der Erpresser, und nicht Lindthof. In meinem Kopf schwirrten Worte umher. Worte aus den Briefen, Worte von Lindthof, Worte von Sam. Meine eigenen, als ich Sam alles erzählt hatte.

"Da staunst du, was? Tja, hättest wohl nicht gedacht, dass ich hinter dem ganzen stecke, oder? Du hast mir ja praktisch blind vertraut!". Er lachte vergnügt auf.

"Ich...", stammelte ich verwirrt und fügte noch hinzu: "Warum?"

"Warum?", echote er und sah mich mit einem stechenden Blick an. "Du fragst mich allen ernstes, warum ich das alles gemacht habe?"

"Ja...", sagte ich. "Du warst immer so nett zu mir"

"Na, und das bin ich immer noch! Meine Briefe waren doch äußerst nett geschrieben, oder? Da kann man doch nicht meckern!"

"Ich bin nur so verwirrt und frage mich die ganze Zeit, warum du mir diese Briefe geschrieben hast"

"Deine Eltern haben dir wohl nichts von mir erzählt, oder?"

"Ehm...", stockte ich. Was sollte ich jetzt antworten? Das sie nie auch nur ein Sterbenswörtchen über ihn verloren haben?

"Pft, habe ich es mir doch gedacht!", sagte Gernot. "Sie haben mich aus ihrem Leben gestrichen, als würde ich nicht existieren!"

"Aber was haben meine Eltern mit den Briefen und dem Treffen zu tun?", fragte ich immer noch verwirrt. "Sind es diese alten Geschichten, von denen du mir bei unserer ersten Begegnung in der Bibliothek erzählt hast?"

"Alte Geschichten!", spie Gernot die Worte nur so heraus, so dass ich erschrocken zurückwich.

"Diese alten Geschichten haben mein Leben zerstört!"

"Was?", fragte ich perplex. Sein Leben zerstört?

"Ja", sagte Gernot. "Dann will ich dir einmal etwas über deine sauberen Eltern erzählen! Aber Vorsicht, es könnten ein paar Illusionen zerstört werden! Ich war vor deinem Vater mit Pauline zusammen. Wir waren so glücklich, wollten zusammenziehen. Und was passiert? Dein feiner Vater hat sie mir ausgespannt! Das dreiste dabei ist, dass die beiden mich richtig hintergangen haben, denn ich habe ebenfalls in eurem Haus gewohnt. Kurz darauf erklären mir die beiden, dass sie ein Kind erwarten. Kannst du dir das vorstellen? Wie ich mich da gefühlt habe? Sie haben mich lächerlich gemacht, haben mich betrogen und vermutlich noch ihren Spass dabei gehabt. Ich habe ihnen dann den Rücken gekehrt und mir geschworen, mich irgendwann zu rächen. Und nun ist endlich, endlich der Zeitpunkt gekommen!". Mir wurde schlecht. Gernots Worte... wenn da nur die Hälfte stimmen würde, wäre mein Bild unserer Familie zerstört. Meine Eltern... die Beziehungskiller? Meine Mutter, die fremdging? Mein Vater, der ohne Rücksicht auf Verluste jemandem die Frau genommen hatte? Ich konnte es mir nicht vorstellen! Meine Eltern taten soetwas nicht!

"Du glaubst mir wohl nicht, oder?", fragte Gernot mit rotem Kopf. Ich wollte ihn nicht länger reizen und sagte deshalb:

"Doch"

"Gut so!", sagte Gernot immer noch erhitzt. "Du fühlst dich jetzt mies, was? Tja, willkommen in meiner Welt! Ich habe diese Erniedrigung nie ganz verkraftet, außerdem wusste ich ja nicht, ob du nicht vielleicht auch meine leibliche Tochter warst. Das hätte ja sein können. Aber als ich dich dann gesehen habe, auf einem Zeitungsfoto in dem Artikel, dass sie über das Jubiläumskonzert deiner Mutter berichtet haben, war es klar, dass du Gabriels Tochter bist. Die Ähnlichkeit ist so frapierend. Sogar das hat er mir genommen dieser Hund! Dabei hätte ich gerne Kinder gehabt! Alles Glück ist ihnen zugeflogen. Sie bekamen ein Kind, Pauline wurde ein berühmte Komponistin, dein Vater war mit seinem Gemüse erfolgreich. Dann diese Grafschaft hier", er machte eine weitausholende Handbewegung, "Alles, wirklich alles haben sie erreicht! Familie, Karriere und viel Geld dazu! Und ich habe nichts und bin nichts! Das ist alles ihre Schuld!". Ich blieb still, denn Gernot erzählte nun schon etwas irre. Was ihn nicht ungefährlicher machte, ganz im Gegenteil sogar.

"Aber endlich ist der Tag gekommen, an dem ich mich rächen kann. Ich werde ihnen weh tun, so wie sie mir weh getan haben. Ich habe sehr lange auf diesen Tag hingearbeitet, musst du wissen. Alles gelesen, was es über euch zu lesen gab. Ich habe mich mit dir angefreundet. Du glaubst gar nicht, wie schwer das für mich war! Aber ich habe es geschafft. Und wie bereitwillig du mir immer wieder das Neueste erzählt hast!". Er lachte ein fieses Lachen und mir schwindelte. Ja, das hatte ich tatsächlich. Er war im Bilde gewesen, wie man so schön sagte. Und ich hatte mich schon wieder in einem Menschen getäuscht. Ich sah ihn an, sah seine Augen irre blitzen und bekam Todesangst. Was, wenn er mir hier etwas antat? Ich musste hier weg!

 

Doch dann ging alles ganz schnell: Gernot packte mich am Arm und zerrte mich in unser Haus. Das Haustürschloss konnte man nicht mehr zuschließen, also war es kein Problem für ihn, mich nun in das Haus zu stoßen. Er schubste mich vor sich her, bis wir in dem Raum waren, der hier früher als Küche genutzt wurde, dann lachte er auf.

"Das ist wunderbar, das klappt ja alles ganz hervorragend! Du, liebe Megara, hast alles genauso gemacht, wie ich es geplant hatte. Dafür danke ich dir herzlich. Es ist eigentlich schade um dich, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Also, grüße die Engel von mir!". Panisch blickte ich ihm hinterher und sah, wie er Streichhölzer aus seiner Hosentasche zog.

"Nein!", schrie ich aus, weil mir plötzlich klar wurde, was er vorhatte. Gernot schmiß das Streichholz in einen Raum auf dem gleichen Stockwerk. Ich wollte rausrennen, doch rasend schnell war er wieder bei mir.

"Du bleibst hier!", sagte er und schubste mich in die Küche zurück, so dass ich hinfiel. Ich rappelte mich gerade wieder auf, als ein brennendes Streichholz nicht weit von mir entfernt auf den Boden flog. Ich hörte noch, wie Gernot lachend das Haus verließ. Sofort fing das alte, morsche Holz Feuer und ich saß in der Falle!

Die Flammen loderten sehr schnell und strömten nicht nur eine unglaubliche Hitze aus, sondern auch sehr viel Rauch, der mich sofort in den Atemwegen reizte. Was sollte ich tun? Ich würde verbrennen, das spürte ich. Niemand, außer Sam, wusste, dass ich hier war. Und der war nicht nur sehr weit weg, sondern auch beschäftigt, sonst hätte er sich nach meiner Nachricht auf die Mailbox schon längst gemeldet.

Ich hustete, außerdem wurde mir schwummerig. Von überallher kamen nun die Flammen und ich vermutete, dass Gernot auch noch von außen Feuer gesteckt hatte. Und ich hatte nichts, womit ich es löschen konnte!

Ich wusste, dass ich sterben würde. Ich bekam kaum noch Luft, mir war schlecht, ich hustete trocken und schmerzhaft, außerdem hatte ich das Gefühl, bald ohnmächtig zu werden. Es war vorbei. Das Haus lag zu weit außerhalb, als dass es noch jemandem rechtzeitig auffallen würde, dass es brannte. Mir waren sämtliche Fluchtwege versperrt, und ich hatte nichts zum Löschen. Ich dachte an meine Familie, meinen Sohn und meine Eltern, meine Verwandten und meine Freunde. Alles mögliche geisterte mir im Kopf herum, ich sah uns in den verschiedensten Situationen. War das schon dieses berühmte Kopfkino, der Film, der an einem vorüberzog, kurz bevor man starb? 

 

Plötzlich hörte ich jemanden meinen Namen rufen.

"Megara! Wo steckst du?"

 

Halluzinierte ich etwa schon? War das Sam? Es war eine Männerstimme, wenn ich das noch richtig einordnen konnte.

 

"Megara!". Da, schon wieder! Ich wollte antworten, doch statt ein einfaches Ja zu sagen musste ich schon wieder heftig husten.

Plötzlich rannte mein Geschäftsführer in die Küche.

"Megara! Gott sei Dank!", sagte er erleichtert. Emmanuel Lindthof? Er war hier? Ich schnappte verzweifelt nach Luft, was ihm nicht entging.

"Halte durch, ich hole dich hier raus!", sagte er.

Ich sah ihn in den Flammen, sah noch, wie er sein Jacket auszog, um damit das nach ihm züngelnde Feuer abzuwehren. Auch er hustete bereits, ich sah, wie er sich Schritt für Schritt zu mir durchkämpfte.

Dann wurde mir entgültig schwarz vor Augen, und alles, was ich noch sah, bevor ich ihn Ohnmacht fiel, war eine Hand, die nach mir griff und die Zimmerdecke, die in glühendes Licht getaucht war.

Als ich wieder erwachte, fühlte ich meinen trockenen Mund, meine Zunge klebte am Gaumen fest. Und so sehr ich es auch befahl, in den ersten Sekunden konnte ich meine Augenlider nicht öffnen.

„Ich glaube, sie wacht auf!“, sagte plötzlich eine aufgeregte Stimme, die ich kannte. Mutter war da. Ich versuchte, mit aller Kraft meine Augen zu öffnen, schaffte es endlich.

„Ja, wirklich!“, eine andere aufgeregte Stimme. Sam.

„Megara, kannst du uns hören?“, fragte meine Mutter, ich blinzelte.

„Ja“, krächzte ich leise und erschrak selbst über den Klang meiner Stimme.

Ich sah sie an. So hatte ich meine Mutter noch nie gesehen. Ihre Haare waren unfrisiert, unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, und – hatte sie geweint?

„Wie fühlst du dich?“, fragte sie.

„Ganz... okay“, stammelte ich. Hatte ich Schmerzen? Was war denn nur geschehen? Entsetzt musste ich feststellen, dass ich mich an nichts erinnern konnte. Ich besah mir das Zimmer, in dem ich lag, ein typisches Krankenhauszimmer. Warum war ich hier?

„Ich hole mal den Arzt oder eine Schwester, bin gleich wieder da“, sagte Sam und verließ das Zimmer. Meine Mutter nahm meine Hand und streichelte darüber.

„Wo ist Sven?“, wollte ich wissen. Mein Sohn! Wie ging es ihm?

„Er ist zu Hause, Vater ist bei ihm“, antwortete meine Mutter. Ich seufzte erleichtert auf.

„Wie lange bin ich schon hier?“, fragte ich dann.

„6 Tage“, sagte Mutter. 6 Tage. Einfach weg. Ich konnte mich immer noch an nichts erinnern.

„Warum bin ich hier?“, fragte ich dann, und ich brauchte für diese wenigen Worte bereits meine ganze Kraft.

„Du weißt es nicht mehr?“, fragte meine Mutter verblüfft. Ich schüttelte leicht den Kopf, um meine Kräfte zu sparen. Mutter tätschelte daraufhin nur meine Hand und flüsterte, dass ich mich wieder ausruhen sollte. Doch bevor ich erneut im Schlummer versank, stand ein Arzt vor mir, der meine Mutter und Sam hinausschickte und mir ein paar Fragen stellte, die ich kaum mehr beantworten konnte und der ein paar kleinere Untersuchungen vornahm. Dann schlief ich wieder ein. 

Als ich das nächste mal erwachte, saß Susi an meinem Bett.

„Meg!“, sagte sie erfreut.

„Susi“, sagte ich, fühlte mich schon etwas besser.

„Was machst du nur für Sachen?“, fragte sie gespielt vorwurfsvoll. Ich versuchte ein Lächeln.

„Wenn ich das nur wüsste...“, sagte ich. „Was ist denn nur passiert?“

„Das... das soll dir jemand anders erzählen“, sagte Susi ausweichend.

Diesmal hielt meine Wachperiode länger an, und ich bekam noch mit, als mein Vater mich besuchen kam, Susi verabschiedete sich dann schon bald.

„Daddy“, sagte ich leise, „Ich möchte wirklich wissen, was passiert ist. Alle weichen mir aus, aber ich habe ein recht zu erfahren, weshalb ich hier drin liege und mich einfach scheiße fühle!“. Mein Vater blickte mich ein paar Sekunden lang an, wägte wohl ab, was er sagen konnte und was nicht. Dann begann er zu erzählen:

„Megara, erinnerst du dich daran, dass du beim Grafenanwesen warst?“, fragte er zuerst. Ich forschte in meinem Gehirn. Ich erinnerte mich tatsächlich dunkel daran. Jemand war dabei, nur wer?

„Ich war dort nicht allein...“, versuchte ich meinem Gehirn auf die Sprünge zu helfen.

„Nein, das warst du nicht“, sagte mein Vater und seine Stimme war plötzlich eiskalt geworden.

„Wer?“, wollte ich wissen.

„Gernot Lutzenbacher“, sagte mein Vater und spie die Worte nur so heraus. Gernot! Natürlich, jetzt fiel es mir wieder ein. Die Briefe, das Treffen am Haus, das Feuer... Gernot hatte mich hereingelegt!

„Dieses letzte Stück Dreck dieser Erde hat es billigend in Kauf genommen, dass du stirbst!“, sagte mein Vater hasserfüllt. „Und das nur wegen seiner Rache, die für mich und deine Mutter bestimmt war. Dieser Abschaum wird hoffentlich nie wieder freien Boden unter den Füßen spüren, dafür werde ich sorgen!“. So aufgebracht hatte ich meinen Vater noch selten gesehen. Aber jetzt lichtete sich so langsam der letzte Nebel, der in meinem Gehirn gewesen war. Das Gespräch mit Gernot, seine hämisch verzogene Fratze, das Streicholz... Emmanuel Lindthof. Mein Geschäftsführer, der zu mir geeilt war, um mir zu helfen. Der mir das Leben gerettet hatte. Mein Gott!

„Wo ist Lindthof?“, fragte ich meinen Vater.

„Er liegt nur drei Zimmer weiter“, sagte mein Vater und mein Herz sank in die Hose.

„Ist es schlimm?“, fragte ich.

„Nein, keine Sorge. Er hatte eine leichte Rauchvergiftung, nicht mehr. Da er dich noch ins Freie getragen hatte, wart ihr schnell wieder an der frischen Luft, so dass Schlimmeres verhindert werden konnte.

„Er hat mich... rausgetragen?“, fragte ich erstaunt.

„Ja, das hat er. Ich würde vorschlagen, dass du ihm eine ordentlich Gehaltserhöhung gibst, wenn ihr beide wieder fit seid“, meinte mein Vater lächelnd. Ich schloss erschöpft die Augen, das alles strömte jetzt doch wie eine riesige Welle auf mich ein. Emmanuel Lindthof, der Mann, den ich gehasst hatte, hatte mir mein Leben gerettet.

„Daddy, wenn Herr Lindthof kann, würde ich mich freuen, wenn er mich kurz besuchen kommt“, sagte ich bittend.

„Ich sage ihm Bescheid, ihm geht es schon so gut, dass er in den nächsten zwei Tagen nach Hause kann“. Damit stand mein Vater auf und ging, wohl um meinen Geschäftsführer zu holen. Und wirklich, kurz darauf stand er mit ihm in meinem Zimmer.

"Hier ist er, Megara. Ich gehe kurz in die Cafeteria, bin gleich wieder da“, sagte mein Vater noch, bevor er mich mit Emmanuel allein ließ.

„Hallo“, krächzte ich, diesmal weniger vor Erschöpfung. Es warf mich völlig aus der Bahn, dass dieser Mann von mir so falsch eingeschätzt worden war. Schon wieder. Ich besaß wohl überhaupt keine Menschenkenntnis!

„Setzen sie sich, bitte“. Lindthof setzte sich auf den Stuhl, auf dem vorhin noch mein Vater gesessen war.

„Danke“, sagte er und setzte sich. „Wie fühlen sie sich?“

„Ganz gut“, sagte ich und sah ihn an. Seine Augen ruhten auf mir. „Und ihnen?“

„Gut, vielen Dank. Ich darf morgen nach Hause, bin also soweit wieder hergestellt“, antwortete er lächelnd. Es entstand eine Pause zwischen uns.

„Ich muss mich bedanken“, sagte ich dann und sah ihn fest an. Und das war noch viel zu wenig gesagt.

„Nein, das brauchen sie nicht. Jeder hätte in meiner Situation so gehandelt wie ich“, sagte er bescheiden.

„Woher haben sie das... gewusst?“, fragte ich. Nun senkte er etwas beschämt seinen Blick.

„Nunja“, stammelte er, „ich habe den Brief gesehen“, sagte er. Den letzten also, auf dem der Treffpunkt samt Uhrzeit und Tag drinnen gestanden hatte.

„Aber wieso?“, fragte ich verblüfft. Ich hatte ihm den Brief doch nicht gezeigt? Nun wand er sich sichtlich.

„Ich hoffe, dass sie mich wegen Vertrauensbruchs jetzt nicht gleich kündigen werden“, sagte er, „aber ich habe einfach in ihrem Büro geschnüffelt. Sie machten auf mich so einen verstörten Eindruck, als sie an meinem Büro vorbeigestürmt sind, dass ich gedacht habe, nunja... Ich wollte ihnen helfen. Und so bin ich in ihr Büro, um einen Hinweis für ihr Verhalten zu finden, und fand dann den Brief. Er lag auf dem Boden, dieser Schrieb von diesem Mistkerl“. Nun wurde er fast genauso sauer wie mein Vater kurz davor.

„Nun“, sagte ich gespielt ernst, „darüber müssen wir uns dann nochmal in aller Ruhe unterhalten. Mein Vertrauen in sie wurde durch diesen Übergriff empfindlich gestört, soviel kann ich ihnen schonmal sagen“. Zuerst sah mich Emmanuel erschrocken an, dann sah er, wie ich mir das Grinsen kaum verkneifen konnte, und er lächelte zurück.

"In Ordnung, soetwas habe ich mir schon gedacht. Ich bin vorbereitet, habe mich schon bei der SimCity-Feuerwehr beworben. Sie sind an mir interessiert, stellen sie sich das mal vor“. Nun grinste ich wirklich breit.

„Nun, ihre Feuertaufe haben sie ja nun schon mit Bravour bestanden“, sagte ich und forschte in seinem Gesicht, wie er reagierte.

„Nicht wahr?“, sagte er. „Es wird mir eine Ehre sein, in Zukunft hübsche junge Frauen vor dem Feuer zu retten“, witzelte er weiter. Was mir früher noch wie Arroganz vorgekommen wäre, klang für mich nun herrlich humorvoll.

„Herr Lindthof?“

„Ja?“

„Wer kümmert sich im Moment um die Firma?“

„Ihre Großeltern sind für die Zeit unseres Ausfalls wieder auf den Chefsesseln“, sagte er. Gut, dann musste ich mir auch um die Firma keine Sorgen machen.

„Dann möchte ich, dass sie noch mindestens eine Woche zu Hause bleiben und sich erholen“, sagte ich.

„Das ist nicht nötig. Gleich am Montag gehe ich wieder in die Firma, um ihre Großeltern zu entlasten“

„Nein, das möchte ich nicht!“, sagte ich bestimmt. „Und ich bin immer noch ihre Chefin, auch wenn sie mir das Leben gerettet haben!“

„Hm, in Ordnung. Ich möchte ja nicht zum zweiten Mal heute die Kündigung riskieren“, sagte er ergeben.

„Eben!“, meinte ich. Es wurde ruhig in dem Zimmer, und ich spürte, wie die Müdigkeit zurückkehrte.

„Ich gehe mal wieder zurück in mein Zimmer. Wenn sie erlauben, würde ich sie auch nach meiner Entlassung gerne besuchen kommen“

„Gerne“, murmelte ich in meinem halbwachen Zustand, bevor ich wieder einschlief.

Und er besuchte mich tatsächlich. Dann spazierten wir im Krankenhauspark herum und redeten über alles mögliche. Da ich mich wieder erinnert hatte, dass er mich in dem brennenden Haus mit dem Vornamen gerufen hatte, hatte ich ihn gefragt, ob wir uns nun nicht richtig duzen sollten. Dem hatte er zugestimmt.

Wir redeten auf diesen Spaziergängen wirklich viel, uns gingen nie die Gesprächthemen aus. Natürlich redeten wir auch über diesen unheilvollen Tag und ich erfuhr, dass Gernot bereits in Untersuchungshaft saß, was ich wieder Emmanuel zu verdanken hatte. Der hatte ihn nämlich noch gesehen, wie er von außen tatsächlich noch Feuer gesteckt hatte. Emmanuel hatte ihn am Kragen gepackt und ihm einen Kinnhaken verpasst, der ihn kurzfristig außer Gefecht gesetzt hatte. Schnell hatte mein Geschäftsführer Feuerwehr und Polizei gerufen und war dann ins Haus gestürmt, wo er mich gesucht und schließlich auch gefunden hatte.

 

Als mir klar wurde, dass mich jemand hatte töten wollen, fiel ich in ein tiefes Loch. Ich war in meinem Leben schon oft auf die falschen Leute hereingefallen, hatte mich in der Schule mobben und mich von einem Mann schwängern lassen, der mich nur ausgenutzt hatte. Ich hatte mich immer wieder aufgerappelt, dank meinen Eltern und meinen wenigen Freunden. Aber diese Sache warf mich völlig aus der Bahn.

 

Mein Vertrauen in die Menschen wurde so sehr erschüttert, dass ich selbst bei Emmanuel auf Anzeichen achtete, die ihn ebenfalls als einen Lügner auffliegen lassen würden. Dabei hatte er sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um meines zu retten.

Nachts hatte ich oft schlimme Alpträume. Immer wieder durchlitt ich diese schlimmsten Minuten meines Lebens, spürte diese unglaubliche Hitze und die Atemnot, als wäre ich immer noch mittendrin. Ich hörte das Knistern des brennenden Holzes und das helle Licht des Feuers. Und immer wieder diese Hand, die sich mir helfend entgegengestreckt hatte.

Durch die schnelle Zugabe von purem Sauerstoff noch am Grafenanwesen und die Einnahme meiner kortisonhaltigen Medikamente war auch ich zwei Tage später wieder soweit, aus dem Krankenhaus entlassen werden zu können. Dr. Weber bestätigte, dass es meinen Lungen wieder gut ging und auch mein Gehirn trotz kurzzeitigem Sauerstoffmangel ohne bleibendem Schaden davongekommen war. Die leichten Verbrennungen auf der Haut heilten bereits ebenfalls ab.

 

Mein Vater holte mich aus dem Krankenhaus in Simgard ab, und gemeinsam fuhren wir zurück nach Sunset Valley.

Zuhause angekommen sah ich, dass der PKW-Stellplatz endlich fertig geworden war. Das war eine hitzige Diskussion mit Vater gewesen, hier von der Grünfläche vor dem Haus für den von mir geplanten Platz Fläche abzuzwacken, um den Geschäftswagen darauf abstellen zu können. Mutter war gleich einverstanden gewesen, obwohl auch sie die Natur sehr mochte. Ich hatte meinen Vater nur deshalb überreden können, weil ich ihm versprochen hatte, dass nur das Nötigste gepflastert werden sollte und wir dafür viele Blumen pflanzen würden. Das Endergebnis gefiel mir nun wirklich, und auch Vater stellte den Wagen auf dem neuen Platz ab, ohne eine abwertende Bewertung zu machen, was wohl bedeutete, dass er sich ebenfalls gut damit abgefunden hatte.

Das erste, was ich im Haus tat, war nach Sven zu sehen. Ich hatte meinen Sohn mehrere Tage nun nicht gesehen und hatte ihn sehr vermisst. Er spielte in seinem Zimmer mit dem Xylophon und ich setzte mich dazu.

"Nana!", freute er sich, als er mich sah und drückte seinen warmen Körper an meinen. Ich hielt ihn fest.

"Nana! Lala!". Ich lachte.

"Ja! Ich habe lala auch gehört!", sagte ich und Sven zeigte mir nun stolz die Töne, die er dem Instrument entlocken konnte.

Es war so ein friedlicher Moment, auch für mich, dass mir wieder bewusst wurde, dass ich hier, bei meiner Familie, am Besten aufgehoben war. Anscheinend besaß ich ja keinerlei Talent, gute Menschen von den bösen zu unterscheiden und das hätte mich vor ein paar Tagen sogar beinahe das Leben gekostet.

 

Hier war ich sicher, und so sollte es bleiben. Ich würde an meinen Romanen arbeiten, mich um Sven kümmern und immer mal wieder in Sim City nach dem Rechten sehen. Ich hatte zwei wunderbare Freunde, und ich fand, Klasse statt Masse war viel wichtiger.

 

Unbekannten Menschen, die ich traf, würde ich auf emotionalem Abstand halten müssen und mich nicht näher mit ihnen befassen. Das würde mich vor erneuten Verletzungen schützen.

 

Ja, so würde ich es schaffen.

Liane war immer noch oft Gast bei uns. Sie hatte nie eine festere Beziehung gehabt, das war immer recht oberflächlich geblieben. Sie wusste ja auch nicht, wer Sams Vater war, da er auf einem Festival gezeugt worden war und drei potenzielle Männer in Frage kamen, von denen sie lediglich den Vornamen wusste.

 

Liane jedoch war mit ihrem Leben zufrieden. Mehr noch, mir schien es, als dass es ihr hochgradig gut damit ging.

 

Für mich stellte sie damit ein Vorbild dar, denn auch sie hatte einen Sohn bekommen, ohne den dazugehörigen Vater. Es ging also gut.

Es war auch bemerkenswert, dass sie ihrem eigenen, extravaganten Stil immer treu geblieben war. Außerdem wusste sie immer etwas zu erzählen, wenn sie da war, gab es immer etwas zu lachen.

Zwei Wochen nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus rief mich Emmanuel an einem Freitag an. Ich hatte ihn die gesamte letzte Woche nicht gesehen, da er schon wieder in der Firma war, während ich noch krank geschrieben war.

 

Nach ein paar kurzen allgemein gehaltenen Sätzen fragte er mich:

"Megara, hättest du Lust, mit mir zu picknicken? Das Wetter ist so schön und ich weiß ja, dass du gerne draußen in der Natur bist", sagte er. Er lud mich tatsächlich zu einem Picknick ein? Natürlich schrillten sofort sämtliche Alarmglocken los, die ich mir selbst in meinen Kopf gehängt hatte. Ein Treffen zu zweit? Andererseits: Ein winziger Teil in mir, den ich vergraben hatte, freute sich über seinen Anruf. Und es wäre ja zu blöd gewesen, ihn jetzt abzuweisen, nachdem er mich in Simgard im Krankenhaus besucht hatte. Wir konnten ja völlig unverfänglich picknicken. Was war da schon dabei?

"Gerne", stimmte ich also zu. "Unter einer Voraussetzung"

"Und die wäre?", fragte er leicht verunsichert.

"Nur legere Kleidung erlaubt", lachte ich, in das er bald schon einstimmte.

"In Ordnung. Nur legere Kleidung. Ich werde daran denken", sagte er dann und wir vereinbarten den Treffpunkt und die Uhrzeit. Wir wählten einen kleinen See, der etwa in der Mitte zwischen Sim City und Sunset Valley lag und wollten uns dort am Samstag nachmittag treffen.

 

Am Samstag dann war ich dann ein wenig nervös wegen des Treffens. Emmanuel hatte tatsächlich an die Kleidung gedacht und erschien wunderbar leger. Er war ein Mann, der beides anziehen konnte und immer gut aussah.

 

Wir spazierten zuerst ein wenig um den See herum, und ich war dankbar, dass Emmanuel und ich die einzigen Besucher hier waren.

Jeder von uns hatte etwas zu dem Picknick beigesteuert, und so saßen wir schon bald gemütlich auf einer Decke an dem See und schlugen uns die Bäuche voll.

Schon nach kurzer Zeit waren wir in ein lebendiges Gespräch vertieft. Emmanuel erzählte mir, dass er gerne reiste, weil er sich für alte Kulturen der Erde interessierte.

 

Als er von tollen Sonnenuntergängen erzählte, schloss ich für einen Moment verträumt die Augen und stellte mir das alles vor. Er konnte wirklich fantastisch erzählen.

Wir bekamen auch Besuch.

 

Eine ganze Ameisenkolonne fand unser Essen wohl auch ziemlich lecker und bediente sich.

Wir blieben den ganzen Nachmittag und Abend dort sitzen. Und als die Sonne bereits ihre letzten warmen Strahlen sendete, erzählten wir uns immer noch alles mögliche.

Es stellte sich außerdem heraus, dass Emmanuel nicht nur gut erzählen konnte, sondern auch ein sehr guter Zuhörer war.

 

Er war darin fast besser als meine Therapeutin, die ich nach dem Unglück einige Male aufgesucht hatte und in Zukunft auch noch ein paar mal aufsuchen würde, um das Erlebte besser verarbeiten zu können. Sie hatte mir zwar schon viel geholfen und mir gute Ansätze übermittelt, doch es war eben nicht so persönlich wie das Gespräch mit Emmanuel.

Erst als schon die Sonne richtig unterging, packten wir zusammen und machten uns auf den Rückweg zu unseren Autos.

Normalerweise hätte ich mich nun schon extrem unwohl gefühlt, weil ich nicht gerade ein Freund der Dunkelheit war. Aber neben Emmanuel war das anders. Ich wusste, er würde mir sofort zu Hilfe eilen, wenn etwas wäre. Wie er es ja schon einmal getan hatte.

Während der Fahrt nach Hause verdrängte ich die Tatsache, dass ich mich an diesem Nachmittag so gut wie schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Ich hatte die Zeit mit Emmanuel richtig genossen. Doch dann erinnerte ich mich wieder an Gernot und Erich, rief mir den Schmerz ins Gedächtnis zurück, den die beiden verursacht hatten. Ich hatte kein Gespür dafür, wer mir gut tat und wer nicht. Wer wusste denn schon, welche Probleme es mit Emmanuel gäbe? Also verschloss ich mich wieder. Ich hatte meine Lektion gelernt. Ich würde mit Emmanuel ganz normal reden, geschäftlich wie auch privat, aber sonst nichts weiter.

 

Zu Hause dann fand ich meinen Vater mit Sven in dessen Kinderzimmer vor.

"Was ist los?", fragte ich und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Wer wusste schon, was hier los war, während ich mich amüsiert hatte.

"Nichts Schlimmes, keine Sorge", antwortete mein Vater. "Ich vermute, dass er schlecht geträumt hat". Natürlich war ich für den Moment erleichtert. Doch ich fragte mich auch, warum mein Sohn schlecht geträumt hatte. Vermisste er mich zu oft?

 

Wieder bekam ich ein schlechtes Gewissen und versuchte erneut, mehr Zeit mit Sven zu verbringen.

Da ich nun ebenfalls wieder nach Sim City fuhr, nahm ich mir die Zeit, die ich an meinem Roman gearbeitet hätte, um mit Sven zu spielen. Mein Verleger würde zwar restlos begeistert sein, und auch mir fehlte das Schreiben, aber Sven ging vor.

Ein paar Tage später rief Emmanuel an und fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihm ins Kino zu gehen.

 

Ich sagte zuerst ab und sagte ihm auch den Grund, doch er schlug vor, nach Sunset Valley zu kommen, damit ich keine lange Fahrtzeit hätte und nach dem Film gleich wieder nach Hause könnte. Dieser Vorschlag gefiel mir, deshalb stimmte ich dann zu. Wir trafen uns direkt am Kino und hatten dann einen lustigen Abend, als wir den neuen Streifen von Bill Zeiger, "Dreiohrkatzen", ansahen.

Auch in der Firma gingen wir nun oft zusammen mittag essen oder auf die Außentermine. So war das auch für mich in Ordnung, mehr Nähe ließ ich nicht zu. Aber da er die auch gar nicht forderte, waren unsere Treffen und geschäftlichen Termine sehr entspannt.

 

Drei Wochen nach unserem ersten Treffen an dem See besuchte ich Emmanuel zum ersten mal bei sich zu Hause. Als ich das große Haus sah, in dem er wohnte, staunte ich nicht schlecht.

Er begrüßte mich erfreut.

"Schön, dass du kommen konntest!"

"Ja, ich freue mich auch", sagte ich. "Das Haus sieht toll aus"

"Danke. Naja, alles kann ich nicht alleine machen. Der Garten etwa wird von Leuten gepflegt, die darüber eindeutig mehr Ahnung haben als ich".

Wir gingen nach drinnen und ich sah mich um. Und war beeindruckt. Emmanuel bevorzugte klare Linien und nicht viel Schnickschnack, schaffte es aber, es trotzdem gemütlich aussehen zu lassen.

"Ich bin mit dem Essen gleich soweit!", rief er mir aus der Küche zu, und ich ging zu ihm und fragte, ob ich etwas helfen könne.

"Du bist heute mein Gast und machst hier selbstverständlich nichts!", sagte er bestimmt.

"Hat dir das Haus irgendjemand eingerichtet? Ein Innenarchitekt?", fragte ich frei heraus und Emmanuel schmunzelte.

"Du traust mir wohl nicht zu, mir das Haus so einzurichten, oder?". Ich wurde etwas rot.

"Nein, es ist nur, weil du vorhin gesagt hast... also, mit dem Garten...". Ich räusperte mich und er lachte auf.

"Keine Sorge, ich bin dir nicht böse. Es hätte ja wirklich sein können, dass ich die Möbel hier nicht selbst herausgesucht habe. Aber doch", er sah sich um, "das meiste hier in diesem Haus habe ich gekauft".

Nach dem Essen lud mich Emmanuel auf ein Glas Wein in seinem Wohnzimmer ein, was ich schon fast entsetzt ablehnte. Natürlich war ihm mein Entsetzen aufgefallen und er fragte mich, ob er etwas Falsches gesagt hätte. Ich erzählte ihm dann von dem Abend, als Sven gezeugt worden war und das ich dort ebenfalls Alkohol getrunken hatte.

"Ich verstehe", sagte Emmanuel ernst. "Hast du ihn sehr geliebt?"

"Ich habe ihn gar nicht geliebt, und trotzdem hat mir sein Verhalten das Herz gebrochen", sagte ich bitter. "Ich war schwanger, von ihm, und er macht sich so schnell es geht aus dem Staub. Er hat weder auf meine Gefühle noch auf die seines Kindes Rücksicht genommen. Das ist das, was mich so verletzt hat"

"Absolut nachvollziehbar", sagte Emmanuel. Wir schwiegen beide kurz und ich spürte, dass die Stimmung etwas in den Keller gerutscht war.

 

So begann ich, von der Firma zu reden, auch wenn wir das im privaten Bereich sonst nie taten. Aber mir fiel im Moment nichts anderes ein. Außerdem waren die neuen Warenlieferungen der Firma Ziebold wieder ohne Beanstandungen gewesen, und das hatte uns sehr gefreut.

Nur kurz darauf schaffte es Emmanuel sogar, mich wieder zum Lachen zu bringen.

"Ich hole uns kurz etwas zum Trinken", sagte er und ging in die Küche. Wieder hatte ich Zeit, mich hier umzusehen und wieder fühlte ich mich sehr wohl. Die Alarmglöckchen schrillten, doch ich beruhigte mich selbst. Es war alles im grünen Bereich, nichts, was irgendwie außer Kontrolle geraten könnte. Ich passte auf.

Emmanuel kam mit zwei tollen, alkoholfreien Cocktails zurück, mit denen wir dann anstießen.

„Auf uns“, sagte Emmanuel und sah mir tief in die Augen. Natürlich begann mein Herz zu klopfen, doch ich atmete tief ein und aus und sagte:

„Ja, auf uns“. Das war unverfänglich, oder? Genauso gut könnte ich diesen Toast auch mit Susi oder Sam machen, kein Problem.

Aber natürlich war es ein Problem, weil ich spürte, dass es anders war. Nachdem er uns noch ein paar Salzstangen zum knabbern geholt hatte, setzte er sich dann auch näher an mich heran, so dass ich sogar seine Körperwärme spürte.

„Wie geht es deinem Sohn?“, fragte er mich dann und unterbrach somit meine Grübeleien.

„Gut, danke der Nachfrage. Ich sehe ihn nur zu selten“, sagte ich bedauernd. Emmanuel nickte.

„Das ist sicher nicht leicht für dich, und auch für ihn. Wie gut, dass er bei deinen Eltern gut aufgehoben ist“.

„Ja“, sagte ich knapp. „Doch das schlechte Gewissen bleibt“.

„Ein schlechtes Gewissen wäre hier fehl am Platz, Megara. Du hast es dir nicht ausgesucht, mehrmals die Woche hierher nach Sim City zu fahren. Ich bin sicher, dass du dafür die Zeit, die du mit Sven verbringen kannst, umso optimaler nutzt“. Nutzte ich die Zeit mit Sven auch wirklich so, wie er es verdiente? Ich war mir sehr unsicher. Konnte ich ihm wirklich das geben, was er brauchte?

„Das ist... naja, nicht immer einfach“, sagte ich.

„Das glaube ich dir“, stimmte Emmanuel zu. „Und hast du mir nicht mal gesagt, dass du eigentlich Schriftstellerin bist? Ich meine, gleich am ersten Abend, als wir uns kennengelernt haben, bei dieser Gala für deine Mutter“. Ich erinnerte mich noch sehr gut an diesen Abend.

Meine Mutter hatte ihren Abschied bekannt gegeben und dafür eine große Gala in der Stadthalle bekommen.

 

Sie sah wunderschön aus und hatte Verwandte, Freunde und Wegbegleiter zu diesem Abend eingeladen.

Mein Vater hatte sich extra für diesen Abend einen Frack gekauft, weil er sonst solche Kleidung nicht trug. Er hatte sich damit nicht sonderlich wohl gefühlt, das wusste ich noch.

Natürlich hatte auch ich mich dementsprechend zurecht gemacht und hatte anfangs, ähnlich wie mein Vater, Probleme, in dieses Fest richtig einzufinden. 

Emmanuel war mein Tischnachbar gewesen. Er hatte mich in ein Gespräch verwickelt und mich damals unglaublich damit genervt, dass er alles so toll fand, was mit uns, der Firma oder dieser Gala zusammenhing.

Ich sehe ihn noch heute bewundernd lächeln, wenn ich wieder einmal etwas völlig unspektakuläres gesagt hatte.

Bald schon wurde auch getanzt und nach und nach wurden die Stühle um uns herum immer leerer.

 

Emmanuel hatte mich sogar zum Tanzen aufgefordert, was ich allerdings ablehnte, da ich nicht tanzen konnte und schon gar nicht wollte.

Nur kurz darauf hatte ich, eine Entschuldigung murmelnd, Emmanuel sitzen gelassen und war schon fast geflüchtet. Dieser Abend war für mich schon so nicht ganz einfach gewesen, ihn auch noch neben Emmanuel verbringen zu müssen, hatte mich an den Rand des Belastbaren gebracht.

 

Diese Gala fand noch vor der Sache mit Erich statt und ich habe Emmanuel lange nicht mehr sehen müssen.

 

Bis ich dann die Firma überschrieben bekommen hatte und die Inhaberin geworden war.

„Ja", kam ich gedanklich wieder in die Gegenwart zurück, "du hattest mich gefragt, was ich beruflich mache, da habe ich es dir gesagt“, antwortete ich.

„Genau!“, lächelte er. Dann entstand eine Pause zwischen uns und ich ließ meinen Blick auf den Tisch sinken. Als ich wieder aufsah, sah mir Emmanuel direkt in die Augen. Mich durchfuhr es augenblicklich wie ein Stromschlag, der mich in einen absoluten Zwispalt versetzte. Auf der einen Seite wollte ich diese Nähe zulassen, auf der anderen Seite jedoch hatte ich Angst davor.

„Megara“, sagte er dann ganz leise, so dass ich Mühe hatte, ihn richtig zu verstehen. Ich sah weg, suchte mit den Augen irgendeinen Punkt in diesem Zimmer, den ich fixieren konnte. Doch er sprach weiter. „Ich weiß nicht, ob du es auch fühlst, aber...“, er stockte kurz, dann fuhr er fort. „Ich mag dich sehr gern. Wir haben in den letzten Wochen viel Zeit zusammen verbracht, und ich habe davon jede Minute genossen. Ich...“, er fuhr sich mit der Hand durch seine Haare, wie ich aus dem Augenwinkel sehen konnte. Hatte er gesagt, dass er mich mochte??? Oh Gott, ich hatte es geahnt! Dieser ganze Abend schon war anders gewesen als die anderen. „Megara?“, fragte er und wartete wohl, bis ich ihn wieder ansah. Also drehte ich langsam meinen Kopf zu seinem.

„Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich überhaupt etwas sagen soll. Aber ich mag dich schon so lange, schon als ich dich bei dieser Gala gesehen habe, habe ich sofort gespürt...“. Er hielt inne. Und mein Herz klopfte noch schneller. Sachte nahm er meine Hand und dann kam er mit seinem Gesicht langsam näher.

Es war wie in einem Film, doch in dem Bruchteil einer Sekunde tauchten zwei Gesichter vor meinem geistigen Auge auf, und ich schnellte zurück und stand auf. Emmanuel sah mich überrascht an.

„Entschuldigung“, sagte er sofort. Er entschuldigte sich tatsächlich? Und wie er jetzt auf dem Sofa saß, wie ein begossener Pudel. Er tat mir Leid, aber genau dieses Mitleid mit anderen hatte mich schon öfters in Schwierigkeiten gebracht. Also versuchte ich den Drang, zu ihm rüberzugehen und ihn zu umarmen, zu unterdrücken und sagte:

„Du musst dich nicht entschuldigen“.

„Aber ich wollte dich nicht überrumpeln“, meinte er. „Und schon gar nichts falsch machen“.

„Du hast nichts Falsches getan“, sagte ich. „Es ist nur so, dass ich noch nicht soweit bin. Ich weiß nicht, ob ich je wieder einem anderen Menschen so nahe sein kann“.

"Ich... verstehe", sagte er stockend. Verstand er wirklich? "Und es tut mir sehr leid. Ich wünschte, ich könnte dir alles Unschöne, was du bisher erlebt hast, ungeschehen machen. Da ich das leider nicht kann, möchte ich dir aber sagen, dass du mit mir jederzeit über das alles reden kannst. Und das du mir vertrauen kannst. Ich werde dir die Zeit geben, die du brauchst“. Ich schluckte. Das alles hatte er nicht gesagt, oder?

Ich war gerührt und kämpfte gegen aufsteigende Tränen an. Dann flüsterte ich:

„Wenn das alles nicht passiert wäre, würde ich...“. Nun stockte ich. Ja, was würde ich dann? Mich in ihn verlieben? Er nahm mich einfach in den Arm und hielt mich fest.

„Ich werde warten“, sagte er wieder. Ich genoss für einen Moment seine Wärme, schloss dabei meine Augen und atmete seinen Duft ein.

Doch dann riss ich mich von ihm los. Ich konnte mich nicht, durfte mich jetzt nicht gehen lassen. Meine seelischen Wunden waren noch lange nicht verheilt, da durfte ich nicht einmal daran denken, etwas zu machen, das möglicherweise neue Wunden verursachen könnte. Und das hier war eindeutig so etwas.

 

„Warte lieber nicht“, sagte ich krächzend. Emmanuel sah mich so traurig an, dass ich wegsehen musste.

„Ich gehe jetzt besser“, fügte ich dann hinzu, schnappte mir meine Handtasche und schritt aus dem Wohnzimmer in den Flur. „Ich danke dir für die Einladung!“, sagte ich noch, bevor ich durch die Türe ging. Er folgte mir nicht, und so konnte ich schnellen Schrittes zu dem Wagen gehen und nach Sunset Valley aufbrechen.

 

Während der ganzen Fahrt über musste ich gegen Tränen ankämpfen, die sich ihren Weg aus meinen Augen bahnten. Warum fühlte ich mich so dermaßen schlecht? Es war gut, dass ich so gehandelt hatte. Eindeutig. Was hätte da alles schiefgehen können! Schon allein die räumliche Entfernung unserer Häuser... das konnte nicht gut gehen! Und dann war ich seine Vorgesetzte, so etwas ist immer äußerst schlecht. In der Firma würde sicher getuschelt werden, was mir als Inhaberin nur schaden konnte. Und wann wäre ich Emmanuel zuwider? Wann würde er bemerken, dass ich nicht die Frau war, mit der er alt werden wollte? Nein, ich konnte keine Enttäuschung mehr verkraften, das schaffte ich einfach nicht.

 

Mein Verstand wusste das alles, keine Frage. Und doch weinte ich mir zu Hause im Bett die Augen aus dem Kopf.

In den nächsten Wochen versuchte ich, wieder mehr Normalität in mein Leben zu bekommen. Dazu gehörte auch, dass ich wieder mehr schrieb. Dumm nur, dass der Krimi, an dem ich gerade saß, vor romantischen Situationen nur so strotzte.

 

Dieses Projekt musste also warten, und so begann ich ein Drama mit dem Titel: "Verwirrte Gefühle" zu schreiben, in dem es um eine unerfüllte Liebe gehen sollte. Die Worte dafür flossen mir schon wesentlich leichter von der Hand.

 

Ich hatte mir in der Firma kurzerhand eine Assistentin eingestellt, die ich zwar noch einlernte, die mich aber schon bald soweit entlasten konnte, dass ich nur noch einmal die Woche nach Sim City fahren musste. Sie war clever und tüchtig, und ich hoffte, dass sie die Geschäfte in meinem Namen gut weiterführen würde. Und ich konnte so Emmanuel noch besser aus dem Weg gehen und mich hier auf mein Leben in Sunset Valley konzentrieren.

Das alles hätte vermutlich auch geklappt, wenn Emmanuel nicht immer wieder auf mich zugekommen wäre, um etwas mit mir auszumachen. Mal wollte er mit mir ins Kino, dann mich zum Essen einladen, dann wieder ein Picknick mit mir machen wie bei unserem ersten Treffen. Oder er machte den Vorschlag, die Mittagspause gemeinsam zu verbringen oder nach der Arbeit noch etwas trinken zu gehen.

 

Ich sagte jedesmal nein.

 

Auch an diesem Tag trat er nach meinem ´Herein!` in mein Büro. In einem Anzug, den ich noch nie an ihm gesehen hatte und der ihm super stand.

"Hallo, Megara!", begrüßte er mich lächelnd. "Ich hoffe, ich störe nicht?"

"Äh...", machte ich nur, weil ich wusste, dass ich ihn irgendwie wieder loswerden musste, denn meine Alarmglocken schrillten schon wieder laut in meinem Kopf. "Ich habe leider nur kurz Zeit für dich", sagte ich deshalb.

"Okay", sagte er und kam näher. Und weil ich mir ganz blöd vorkam, nun auf meinem Stuhl zu sitzen und ihn dabei nicht anzusehen, stand ich auf, trat an meinen Aktenschrank und tat so, als müsste ich dort etwas nachschauen. Total doof, aber es war viel gefährlicher, ihm in die Augen zu blicken. Für mich zumindest. 

Ich spürte seine Blicke auf mir und wartete, was er zu sagen hatte. Die Sekunden bis dahin kamen mir ewig vor.

"Megara, in Sim City wird am Wochenende im Theater >Faust< aufgeführt und ich habe zwei Karten ergattert. Möchtest du mich begleiten?", fragte er. Verwundert stellte ich fest, dass er sich etwas verunsichert anhörte.

 

Theaterkarten also. Meine Güte, ich stellte mir diesen Abend nur mal kurz vor meinem geistigen Auge vor: Wir beide fein herausgeputzt, er vermutlich in einem atemberaubenden Smoking, gehen ins Theater. Dunkelheit umspielt uns, während wir dicht beieinander sitzen und das Stück genießen. Könnte ich es überhaupt genießen? Wäre ich nicht zu... abgelenkt? Hm, diese Fragen standen auf einem anderen Blatt. Danach würden wir sicher noch etwas trinken gehen und über das Stück und so manch anderes reden. Ich erinnerte mich an die tollen Gespräche, die ich mit ihm schon geführt hatte. So ein Abend könnte meine Vorsätze zum Schwanken bringen, deshalb konnte ich ihn da unter keinen Umständen begleiten.

"Am Wochenende kann ich nicht hierherfahren, Emmanuel", sagte ich zu ihm und sah, wie sein Gesicht ernst wurde. "Ich wollte bei Sven bleiben, er sieht mich doch so selten". Ich seufzte innerlich auf. Wie oft hatte ich Sven schon als Grund vorgeschoben, nicht mit Emmanuel ausgehen zu müssen?

"Megara, du weißt, ich unterstütze es, dass du bei deinem Sohn bist oder er bei dir. Das ist überhaupt keine Frage. Aber zum einen würde eine Karte verfallen, wenn ich keine Begleitung habe, zum anderen macht es allein auch nur halb soviel Spass und zum dritten haben wir zwei schon seit einer halben Ewigkeit nichts mehr unternommen. Es wäre ja abends, und da schläft dein Kleiner doch sowieso. Es wäre nur die Zeit, die du hierherfahren müsstest, die er dich an dem Tag weniger hätte", versuchte er mich zu überzeugen. Ich konnte seinem Blick kaum standhalten, ohne schwach zu werden.

 

In diesem Moment kam mir die Erinnerung wieder hoch, wie Erich so boshaft gegrinst hatte, als ich ihm gesagt hatte, dass wir ein Kind bekommen, und alle Gefühlsduselei war verschwunden. Ich hatte mich wieder im Griff.

"Tut mir leid", sagte ich. "Ein anderes mal gerne wieder, aber diesen Samstag wollte ich wirklich zu Hause bleiben. Frage doch deine Schwester, ob sie dich begleitet?". Emmanuels Schwester Tatjana wohnte auch in Sim City, und die beiden hatten auch ein recht gutes Verhältnis.

"Tatjana hasst Theater, und sie kann Goethe nicht ausstehen", sagte er und ich sah aus dem Augenwinkel, dass er mich schon fast bittend ansah.

"Schade", sagte ich. "Aber ich kann nicht". Es fiel mir unglaublich schwer, ihm das zu sagen. Auch wenn ich ihm noch hundert mal absagen würde, käme ich mir dabei so schlecht wie jetzt vor.

Emmanuels Blick verdunkelte sich, er sah mich traurig an.

"Wirklich schade. Da kann man nichts machen", meinte er. "Ich werde die Karte an der Abendkasse hinterlegen, vielleicht freut sich ja noch jemand darüber".

"Ja, das ist eine gute Idee", stimmte ich ihm zu. Schweigend standen wir voreinander und ich wich wieder seinem Blick aus.

"In Ordnung, dann gehe ich jetzt wieder und störe dich nicht länger", sagte er und versuchte ein Lächeln, was ihm aber misslang.

"Ja", sagte ich nur. "Du denkst an den Termin heute Mittag bei Kunze & Paulus?", erinnerte ich ihn an den Termin mit einer Firma, die uns möglicherweise in Zukunft mit den Dosen für die Schädlingsbekämpfer beliefern würde. Den Vertrag gingen wir heute mittag gemeinsam mit deren Geschäftsführer durch.

"Natürlich", sagte er und dann ging er grußlos hinaus. Was mich auf der einen Seite erleichterte, auf der anderen Seite jedoch auch traurig machte. Es war zum verrückt werden.

Ich stand noch eine Weile so da und überlegte, ob ich wirklich richtig handelte. Mit meiner Zurückweisung schlug ich Emmanuel vor den Kopf und das wollte ich nicht. Auf der anderen Seite wollte ich aber auch nicht, dass er sich unnötig Hoffnung machte. Ich hatte einen Entschluss gefasst, und an dem rüttelte ich nicht mehr.

 

Mein Leben war so schon kompliziert genug, da brauchte ich nicht noch einen Freund, der mein Angestellter war und der viele Kilometer von mir entfernt wohnte. Außerdem war Emmanuel eine starke Persönlichkeit, der das alles sicher bald wegstecken würde. Dann traf er sicher eine andere nette Frau, verliebte sich in die und gut.

 

Und gut. Und gut? Ja, verdammt! Ich wusste, dass es besser so war. Es war dann gut, wenn sich Emmanuel in eine andere verlieben würde, er durfte schließlich nicht unglücklich sein. Meine Assistentin Sophie wäre vielleicht eine Kandidatin, die sah immer mit leuchtenden Augen auf, sobald Emmanuel das Büro betrat. Hm. Doch da ich mir darüber nun keine weiteren Gedanken machen wollte, machte ich mich wieder an die Arbeit.

Am Samstag Abend, dem Abend, an dem ich eigentlich mit Emmanuel im Theater hätte sein können, saß ich mit Sam auf unserer Couch und schaute eine DVD mit ihm an.

 

Ich hatte ihn kurzerhand gefragt, ob er mir an dem Abend Gesellschaft leisten wollte, und er hatte für mich sogar eine Verabredung verschoben. Er war selten Samstag Abend zu Hause, deshalb freute es mich um so mehr, dass ich an diesem Abend nicht alleine sein musste, nachdem meine Eltern auf einem klassischen Konzert waren.

 

Wir hatten uns in die bequemste Kleidung geschmissen, die unser Kleiderschrank hergegeben hatte, hatten uns Popcorn besorgt und ich eine DVD. Dabei war ich extra an jedem Liebesfilm vorbeigelaufen, den es gab, und hatte mich dafür für einen Action-Streifen entschieden. In diesem Genre kannte ich mich zwar überhaupt nicht aus, aber der Film war mir von dem Verleiher empfohlen worden. Als Sam den Titel sah, grinste er:

">Iron Man<, Meg? Seit wann schaust du denn soetwas an?"

"Das ist mein Dank an dich, dass du heute mit mir einen gemütlichen Abend machst", sagte ich, und das war immerhin nicht ganz gelogen.

"In Ordnung. Ich bin gespannt, was du zu dem Film sagen wirst", grinste er immer noch.

"Oh, du kennst ihn schon?", fragte ich.

"Jeder kennt >Iron Man<", sagte er großspurig und breit grinsend. Ich knuffte ihn in die Seite, legte die DVD ein und wir setzten uns hin.

Nun, der Film fesselte mich nicht so sehr, was aber fast klar gewesen war. Und während Sam gespannt der Handlung folgte, fuhren meine Gedanken schon wieder Karussell.

So gespannt folgte Sam aber wohl doch nicht der Handlung, denn plötzlich vernahm ich seine Stimme:

"Erde an Megara von Hohenstein! Bitte melden!"

"Was?", fragte ich perplex, und Sam lachte los.

"Wo bist du denn mit deinen Gedanken? Ich habe dich viermal gefragt, wie du den Film bis jetzt findest, und habe keine Reaktion von dir bekommen!"

"´Tschuldige", sagte ich zerknirscht.

"Möchtest du über etwas mit mir reden, Meg? Du weißt, ich bin immer für dich da!", sagte er sanft zu mir. Ach, mein guter, bester Freund! Doch ich wollte jetzt ganz und gar nicht über irgendetwas reden.

"Nein, lass` uns einfach weiterschauen. Gibst du mir noch etwas Popcorn rüber?", sagte ich. Sam sah mich noch einen kurzen Augenblick an, doch dann reichte er mir die Popcorntüte. Danach nahm er mich einfach wortlos in den Arm und hielt mich fest.

Ich genoss seine Nähe sehr und schmiegte mich an ihn. Sam war als Sportler trainiert, und ich konnte seine Muskeln unter dem dünnen Shirt spüren. Das war sicher einer von vielen Gründen, weshalb er bei den Frauen wirklich hochbegehrt war.

So geborgen schaffte ich es dann auch, dem Film zu folgen und nicht wieder an etwas anderes zu denken. Sam wusste eben immer, wie er mir helfen konnte, selbst wenn er nichtmal wusste, was mich beschäftigte.

 

So verlief der Rest des Abends wunderbar ruhig, und ich konnte seit langem mal wieder gut einschlafen.

Am Montag darauf war ich wieder in Sim City. Es war noch recht früh und die Hälfte der Belegschaft war noch gar nicht anwesend, was ich immer sehr angenehm empfand und deshalb immer versuchte, möglichst früh hier zu sein. Ein kurzer Blick durch den Türspalt von Emmanuels Büro zeigte mir, dass er noch nicht hier war.

 

Meine Sekretärin allerdings saß bereits an ihrem Platz, als ich das Vorzimmer betrat. Sie war eigentlich immer eine der ersten in der Firma, die gute Seele hier und für mich schon fast unentbehrlich geworden. 

"Guten morgen, Frau von Hohenstein", begrüßte sie mich.

"Guten morgen, Frau Behringer", grüßte ich zurück.

"Hatten sie ein schönes Wochenende?", wollte sie höflich wissen und stand auf, um mir die Post vom Freitag zu geben, an dem ich nicht hier gewesen war.

"Danke", antwortete ich nur. Der Samstag Abend mit Samuel war sehr schön gewesen, und gestern hatte ich viel Zeit mit Sven verbracht. Ich konnte also nicht klagen.

"Schön. Herr Lindthof hat ihnen noch ein paar Vorgänge in ihre Unterschriftenmappe gelegt, bevor er in seinen zweiwöchigen Urlaub gegangen ist", sagte meine Sekretärin. Mein Kopf schnellte hoch. Bitte? Emmanuel hatte Urlaub? Warum war das nicht dick in meinem Kalender eingetragen? Nicht nur, dass es ein komisches Gefühl war, dass er nicht im Nebenzimmer saß, ich musste zugeben, dass ich mich auch etwas unwohl beim Gedanken fühlte, hier nun alles zwei Wochen lang alleine wuppen zu müssen. Wann hatte ich denn den Urlaubsantrag unterschrieben? Sicher war das zu der Zeit, als ich wegen Gernots Briefen so durch den Wind war. Und dann erinnerte ich mich auch dunkel daran, dass Emmanuel hier in meinem Büro gesessen war, irgendetwas von einem Urlaub in Ägypten erzählt hatte und ich dann ganz schnell den Urlaubsantrag unterschrieben hatte. Damals hielt ich ihn noch für den Erpresser und war froh, ihn dann ein paar Tage nicht sehen zu müssen. Jetzt war das Gegenteil der Fall. Vor meiner Sekretärin ließ ich mir aber nichts anmerken, sondern sagte:

„Richtig, ich sehe mir die Unterlagen dann durch. Ist heute sonst noch etwas Wichtiges?“

„Nein, heute wird ein recht ruhiger Tag. Herr Lindthof hat ihnen noch einen persönlichen Brief in die Unterschriftenmappe gelegt, sonst ist nichts weiter“, antwortete sie. Ein persönlicher Brief? Was konnte das sein?

Schnell ging ich in mein Büro, blätterte die blaue Mappe durch, bis ich tatsächlich einen Brief von ihm für mich vorfand. Ungeduldig riss ich ihn auf und erstarrte schon beim Lesen der Betreffzeile. Unübersehbar stand da: „Kündigung meines Arbeitsverhältnisses“. Kündigung. Kündigung. gnüKngdiu. dgKüiungn. Die Buchstaben tanzten Walzer vor meinen Augen, und ich riss mich zusammen, um den Brief lesen zu können.

 

 

 

Kurz und knapp, keine weiteren Erklärungen. Fristgerecht zum nächstmöglichen Zeitpunkt... er wollte also so schnell es ging weg. Ich saß da wie versteinert und konnte es kaum glauben. Aber so war es. Ich hatte es schwarz auf weiß.

 

Mein Geschäftsführer Emmanuel Lindthof hatte gekündigt.

 

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