Midlife-Crisis

Sven

Die Gedanken rasten wie wild durch meinen Kopf.

 

Was hatte das zum bedeuten? Warum stand nicht mein Vater, Emmanuel von Hohenstein, in meiner Geburtsurkunde? Gut, es müsste Emmanuel Lindthof heißen, denn als ich zur Welt kam, hieß er ja noch so. Aber es stand nichts von beidem drin. "Vater unbekannt". Als wäre ich ein Kind einer durchzechten Nacht, die am Morgen neben einem One-Night-Stand endet.

 

Ich machte die Kopie der Geburtsurkunde für den Unterricht und legte dann das Buch wieder dorthin, wo ich es her hatte. Danach sah ich das Bild von Mama an, das mein Vater gemacht hatte. Es konnte einfach nicht sein, nicht meine Mutter. Sie war überhaupt nicht der Typ für eine so flüchtige Affäre, von der sie nicht mal den Namen des Mannes wusste. Es musste einen plausiblen Grund dafür geben, anders konnte es nicht sein.

Während ich mir die Zähne putzte und dann meinen Pyjama anzog, kamen mir die unterschiedlichsten Möglichkeiten in den Sinn.

 

Eine bescheuerter als die andere.

 

Etwa, dass sich Mama und Papa schon außerhalb der Firma irgendwo begegnet waren und sich sofort so heftig ineinander verliebten, dass sie, noch ohne den Namen des anderen zu wissen, eine Liebesnacht erlebten, wo ich gezeugt worden war. Abgesehen davon, dass ich mir Mum und Dad nun wirklich nicht in gewissen Situationen vorstellen mochte, müsste es ja so gewesen sein, dass sie sich dann erst Monate später, als ich schon auf der Welt war, wiederbegegnet waren. Andererseits, das konnte sogar sein, denn ich wusste, dass meine Mutter die Chefin meines Vaters wurde, als sie mich schon hatte. Hm. Oder aber, sie hatte nach der Geburt kurzzeitig unter Amnesie gelitten und der Hebamme dann einfach gesagt, dass sie den Namen des Vaters nicht wusste.

 

Klar. Sonst noch was, Sven? Ich seufzte tief aus. Ich würde nur auf die richtige Lösung kommen, wenn ich sie selbst fragen würde, so einfach war das. Gleich morgen wollte ich das machen. Und mir dann die völlig plausible Erklärung dafür abholen, weshalb da nicht der richtige Name meines Vaters in der Geburtsurkunde stand.

Als ich am nächsten Morgen in unser Esszimmer kam, saßen meine Eltern bereits beim Frühstück. Da meine Schwestern vermutlich noch schliefen, war die Situation ja wirklich perfekt, um sie auf die Geburtsurkunde anzusprechen!

"Morgen", grüßte ich sie zuerst.

"Morgen, Sven!", begrüßte mich meine Mutter fröhlich. "Auf der Theke stehen noch Pfannkuchen", erklärte sie.

"Danke", sagte ich und ging, um mir mein Frühstück zu holen.

Zuerst sprachen wir über den aktuellen Stand, was unser Grafenanwesen in Simgard betraf, denn wir trugen uns mit dem Gedanken, das wieder aufbauen zu lassen. Die Ruine zerfiel immer mehr, und so konnte es jedenfalls nicht bleiben. Es hatte zuerst die Frage im Raum gestanden, ob das Grundstück verkauft werden sollte, weil meine Mutter sehr schlechte Erinnerungen daran hatte. Die Einzelheiten kannten wir Kinder zwar nicht genau, aber wir hatten uns schon so manches aus den Brocken, die sie verraten hatte, zusammenreimen können. Doch sie selbst war dann diejenige gewesen, die das Grundstück unserer Vorfahren erhalten wollte, woraufhin sich meine Eltern wegen des Wiederaufbaus mit einem guten Architekten zusammengetan hatten. Nun war der Stand so, dass der Kostenvoranschlag eingetroffen war. Die Summe, die mir meine Eltern nannten, verschlug mir kurz die Sprache.

"Oh Gott", entfuhr es mir.

"Tja, billig wird das nicht", seufzte mein Vater auf, "aber dafür ist da auch die Entsorgung des Altmaterials schon im Preis inbegriffen. Und so wie jetzt kann das ja auf keinen Fall bleiben, und wenn wir es so verkaufen würden, würden wir nicht viel für dieses doch sehr schöne Grundstück bekommen"

"Dann lassen wir es wiederaufbauen?", hakte ich nach, und meine Mama nickte.

"Ja, wir werden den Auftrag geben".

"Dann bin ich mal gespannt, wie das werden wird!", sagte ich, denn ich und auch meine Schwestern hatten das Haus ja noch nie in seinem Normalzustand gesehen.

Doch während wir über unser Anwesen sprachen, grübelte ich hin und her, wie ich nun das Gespräch auf diese Geburtsurkunde bringen konnte. Wobei, das war ja nicht das Schwierige. Die Schwierigkeit bestand ja wirklich darin zu fragen, weshalb dort nicht mein Dad, nämlich Emmanuel von Hohenstein, als Vater stand.

 

Wir waren bereits mit dem Frühstück fertig, als meine Eltern schon im Begriff waren, aufzustehen. Der Moment war gleich vorüber, dessen war ich mir bewusst. Frag sie!, machte ich mir selbst Mut.

"Mama, Papa? Kann ich etwas fragen?", begann ich dann, und mein Herz zog sich vor Aufregung jäh zusammen. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, dabei rechnete ich doch damit, dass man mir jetzt einen ganz einfachen Grund nennen konnte, warum hier nun nicht der Name meines Vaters in dieser Urkunde stand. Wir würden gemeinsam darüber lachen, sie würden sich an den Kopf fassen und sagen, dass sie die Eintragung schon lange hatten nachholen wollen, und so weiter und so fort.

 

Warum also war ich so aufgeregt?

 

"Natürlich, Schatz", sagte meine Mutter und sah mich erwartungsvoll an. Weil mein Hals nun etwas trocken war, räusperte ich mich noch einmal, bevor ich begann:

"Also, wir haben in Bio ja gerade die Vererbung durchgenommen und sind jetzt dabei, in BK themenübergreifend uns den Stammbaum unserer Familien anzulegen. Außerdem sollten wir unsere Geburtsurkunden kopiert mit in die Schule bringen, weil wir uns die mal genauer ansehen wollen. Gestern Abend, als ihr nicht da wart, habe ich eine Kopie meiner Geburtsurkunde gemacht", sagte ich und hätte mich gleichzeitig ohrfeigen können. Ich hatte den wichtigsten Teil übersprungen. Vor der Kopie hatte ich schließlich diese klitzekleine Kleinigkeit gesehen, die ich einfach nicht verstand.

Doch die Reaktion meiner Eltern überraschte mich. Sie sahen sich zuerst sekundenlang an, dann stand mein Vater auf und brachte die Teller in die Küche, wo er sie in die Spülmaschine räumte, und meine Mutter sah mich mit einem Blick an, den ich noch nie an ihr gesehen hatte.

"Du hast deine Geburtsurkunde gesehen?", fragte sie brüchig.

 

Okay Sven, wenn du dir bisher noch hattest vormachen können, dass sich schon alles zum Guten wenden würde, so musst du spätestens jetzt einsehen, dass das nicht passieren würde. Irgendetwas war hier faul.

"Ja, musste ich ja", antwortete ich. "Und da habe ich gesehen, dass da bei Vater "unbekannt" steht und da habe ich mich gefragt..."

"Du hast dich gefragt, wieso da nicht mein Name drauf steht", vollendete mein Vater den Satz und kam wieder zurück an den Tisch.

Während ich das bejahte, sahen sich meine Eltern wieder intensiv an. Die beiden hatten schon immer die Gabe besessen, stumme Zwiegespräche zu führen, was nicht lustig war, wenn man, wie ich jetzt, eigentlich sehr gerne gewusst hätte, was sie zu sagen hatten.

"Sven", begann dann mein Vater, "wir hätten es dir schon längst sagen sollen...". Mein Puls raste, und ich kam mir vor wie in einem dämlichen Fernsehfilm von Rosalinde Schnilcher.

"Aber wir haben den richtigen Zeitpunkt einfach verpasst", fügte meine Mutter hinzu, und sie hörte sich unglaublich unsicher und ängstlich an.

"Weil ich dich von Anfang an als meinen Sohn gesehen habe", sagte mein Vater, und die Gewissheit wurde stärker. Er war nicht mein leiblicher Vater!

"Dann bist du nicht mein Vater, oder?", fragte ich frei heraus. Ich wollte hier nicht um den heißen Brei herumreden, ich musste endlich die Wahrheit wissen!

"Doch, das bin ich, Sven. Nur nicht der Biologische, aber das hat bei mir nie etwas geändert. Und nach der Hochzeit habe ich dich adoptiert, so dass ich dein Vater wurde mit allem, was dazugehört. Gefühlt war ich das sowieso von dem Moment an, als dich deine Mutter mir vorgestellt hatte, schon allein deshalb, weil du ihr Kind bist", antwortete er.

 

Und da hatte ich meine Antwort. Er war nicht mein leiblicher Vater.

Ich schwankte zwischen Schock und Fassungslosigkeit.

 

Nachdem ich mich seit gestern Abend gedanklich so sehr damit befasst hatte, hätte es mir jetzt weniger ausmachen müssen. Ich hätte vorbereitet sein müssen, denn zur Option, dass er mein leiblicher Vater war, stand immer noch die andere dagegen. Und doch hatte ich es nicht wahrhaben wollen, nicht wahrhaben können.

 

Man hatte mir mein ganzes Leben lang etwas vorgemacht. Das war der erste Gedanke, der in meinen Kopf kam. Ich war mit einer Lüge aufgewachsen, ganz einfach.

"Sven...", begann meine Mutter, doch ich unterbrach sie sofort.

"Nein, ich möchte jetzt nichts hören", sagte ich und stand auf, dabei konnte ich meine Eltern nicht ansehen. Meine Eltern... konnte ich das jetzt überhaupt noch so sagen?

Meine Mutter kam zu mir.

"Es tut uns leid", sagte sie. "Das sollst du auf jeden Fall wissen, bevor du nach draußen gehst. Aber bedenke bitte, dass wir das nicht gemacht haben, um dich absichtlich zu verletzen"

"Klar", setzte ich trocken an. "Ihr habt mich angelogen und mir ein paar klitzekleine, wichtige Details verschwiegen. Alles halb so wild, oder wie? Was machte das schon, wenn ich dachte, dass er mein leiblicher Vater ist?". Ich wusste, dass ich nun selbst verletzend wurde, und ich sah es meiner Mutter augenblicklich an. Sie wurde aschfahl ihm Gesicht.

"Sven!", sagte sie geschockt. "Wie kannst du das so sagen? Er war und ist dir der beste Vater, den du dir hättest wünschen können! Oder ist jetzt plötzlich alles vergessen?"

"Nein, aber ich hätte einfach gerne die Wahrheit gewusst! Ist das denn so schwer zu verstehen?", regte ich mich auf.

"Und deshalb machst du jetzt alles kaputt?", fragte meine Mutter.

"Meg", sagte mein Vater beruhigend und legte seine Hand auf den Arm meiner Mutter.

"Ist doch wahr!", begehrte sie auf. "Wir haben einen Fehler gemacht, ja. Das haben wir ja auch gesagt und es tut uns aufrichtig leid. Aber deshalb jetzt alles in Frage zu stellen ist ja wohl auch nicht fair!".

"Ich habe hier gar nichts kaputt gemacht", sagte ich noch, bevor ich die beiden stehen ließ und nach oben in mein Zimmer stürmte.

Dort angekommen blieb ich kraftlos stehen. Ich fühlte mich so schlecht wie lange nicht und die Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum.

 

Warum hatten sie das einfach nicht früher gesagt? Ich hatte ein Recht, das zu wissen! Hätten sie es je von sich aus erzählt, wenn ich nicht selbst diese Entdeckung gemacht hätte?

 

Und wer war mein leiblicher Vater? Was war er für ein Mensch? Hatte ich diese große Nase ihm zu verdanken, die es hier in meiner Familie scheinbar nur einmal gab? Warum stand er als unbekannt in der Urkunde? Hatte ich noch mehr Geschwister außer meinen Schwestern?

 

Meine Schwestern! Sie waren meine Halbschwestern, von einem Tag auf den anderen. Tante Tatjana war nicht meine leibliche Tante. Es war jetzt alles anders, verwirrend und einfach unfassbar. Ich musste mit jemandem reden, doch meine Familie schied erst mal aus. Also machte ich mich auf den Weg zu Lara.

Vor Laras Haus arbeitete ihre Mutter Doris im Garten. Als sie mich bemerkte, erhob sie sich und begrüßte mich freundlich.

"Hallo Sven! Schön, dass du mal wieder hier bist!". Doris Luther war eine warmherzige Frau, die mich sofort in ihr Herz geschlossen hatte. Laras Vater Julian hingegen war jetzt noch nicht ganz warm mit mir, er hatte wohl immer noch Angst, ich könnte seiner Tochter das Herz brechen. Das hatte Lara zumindest erzählt. Er hatte schlicht Angst, dass die Standesunterschiede zu einem Problem werden konnten.

"Ist Lara da?", fragte ich sie.

"Ja, sie ist in ihrem Zimmer und macht Hausaufgaben. Geh ruhig rein", antwortete sie mir.

"Danke", sagte ich und ging dann in das Luthersche Haus.

Ich klopfte an Laras Zimmertür und trat nach ihrem "Herein!" ein.

"Sven!", freute sie sich, mich zu sehen.

Sie kam sofort auf mich zu und umarmte mich. Es tat so gut, jetzt von ihr gehalten zu werden. Als sie sich wieder von mir löste, sah sie mich an.

"Wie schön, dass du gekommen bist", sagte sie lächelnd und küsste mich. Ich konnte den Kuss kaum erwidern, zu sehr war ich mit den Gedanken woanders, was mir ehrlich leid tat.

Und Lara wäre nicht schon seit ein paar Monaten meine Freundin, um nicht zu bemerken, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ihr forschender Blick traf mich, und ich versuchte gar nicht erst, ihr ein aufgesetzt fröhliches Gesicht zu präsentieren.

"Schatz, was ist los?", fragte sie mich geradeheraus.

 

Wo sollte ich anfangen? Es war so schwer, das alles in Worte zu fassen. Sie bemerkte mein Ringen und wurde dann selbst ganz ernst. "Ist etwas passiert?"

"Könnte man so sagen, ja", krächzte ich schwerfällig. Ich schluckte hart. "Lara, ich habe vorhin etwas erfahren, was mich total aus der Bahn geworfen hat. Ich bin hier, weil ich mit jemandem darüber reden muss". Sie erkannte, wie ernst die Sache sein musste.

"Jederzeit, das weißt du ja. Was ist los?", fragte sie mich, und nach dieser Aufforderung erzählte ich ihr dann alles. Zuerst stockend, dann immer flüssiger, fasste ich in Worte, was kaum zu begreifen war. Von der Geburtsurkunde und dem fehlenden Namen des Vaters, von meinen Grübeleien deswegen, dann vom Gespräch mit meinen Eltern. Als ich zu der Stelle kam, als meine Eltern ganz klar gesagt hatten, dass Emmanuel nicht mein Vater war, sog sie erschrocken die Luft ein.

"Verstehst du Lara, es fühlt sich für mich an, als stünde meine eigene Existenz auf wackeligen Beinen. Was davor ein felsenfestes Fundament war, wurde mir zur Hälfte entrissen. Ich kann zum einen einfach nicht glauben, dass er nicht mein Vater ist, und zum anderen kann ich es nicht verstehen, dass sie mir das so lange verschwiegen haben. Sie sagten ja, dass sie selbst irgendwann gar nicht mehr daran dachten, dass ich nicht der leibliche Sohn von Emmanuel bin, aber so etwas vergisst man doch nicht!".

"Ich weiß jetzt gar nicht, was ich sagen soll", sagte Lara nach meinem Bericht. "Dass du durcheinander bist, ist mehr als verständlich, selbst ich bin gerade total baff. Mit so etwas rechnet man ja auch nicht".

"Allerdings", stimmte ich ihr zu. "Und ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Ich kann doch nicht einfach so weitermachen wie bisher, so, als wäre nichts gewesen!"

"Nein, so einfach wird es wohl nicht werden", meinte Lara und ich seufzte auf. Denn damit bestätigte sie mir ja, dass die nächste Zeit nicht gerade einfach werden würde.

"Was würdest du an meiner Stelle machen? Würdest du wissen wollen, wer dein leiblicher Vater ist?". Nun grübelte sie kurz nach und antwortete dann:

"Vermutlich schon. Hat deine Mutter was erzählt? Hat sie ein Bild von ihm? Ich denke, wenn du einfach ein paar Informationen über ihn hättest, müsstest du dich nicht immer fragen, wer er ist". Ich nickte, denn das leuchtete ein.

"Das stimmt. Und ich habe meine Mutter noch gar nicht nach Informationen gefragt. Das kam alles so plötzlich, dass ich an die naheliegendsten Dinge gar nicht gedacht habe". Lara nahm meine Hand in ihre.

"Mache dir keinen Vorwurf. Es ist doch klar, dass du durcheinander warst und bist. Aber das ist ja eine Sache, die du ohne weiteres nachholen kannst. Das würde ich wohl machen. Meine Mutter nach meinem leiblichen Vater fragen".

"Das werde ich auch tun. Damit Licht in dieses Dunkel kommt". Ich fühlte mich jetzt ein bisschen besser, einfach, weil ich nun einen kleinen Plan hatte, was ich nun als nächstes machen konnte. Wenn alles schon so ein Durcheinander war, tat es gut, etwas Ordnung in die Gedanken zu bringen. Lara sah mich noch einmal forschend an.

"Sven, ich wollte dir noch sagen, dass ich es ganz normal finde, wenn du etwas über deinen leiblichen Vater herausbringen willst. Aber ich denke, es ist trotzdem wichtig, nicht zu vergessen, welcher Mann dein Leben lang für dich als Vater da gewesen ist. Du hast so ein gutes Verhältnis zu ihm, ich habe ihn ebenfalls als tollen Familienvater kennengelernt. Und dass bisher nicht der geringste Verdacht aufkam, dass er nicht dein Vater sein könnte, liegt doch daran, dass er dich genauso wie seine leiblichen Kinder behandelt hat. Das ist nicht selbstverständlich und das solltest du in all dem Ärger jetzt nicht vergessen. Okay?". Sie hatte recht, das musste ich zugeben.

"Ich werde es versuchen", versprach ich ihr.

Zu Hause war von meiner Mutter nichts zu sehen, also ging ich in mein Zimmer. Ich wollte gerade meine Musikanlage anmachen, als die Tür geöffnet wurde. Doch nicht meine Mutter, sondern mein Vater kam herein.

"Sven, kann ich mit dir sprechen?", fragte er mich. Ich überlegte tatsächlich kurz, ob ich das wollte, doch weil ich natürlich auch neugierig war, was er jetzt zu sagen hatte, bejahte ich dann.

Ich drehte mich jedoch nicht um. Und als er merkte, dass ich mich ihm nicht zuwenden würde, begann er zu sprechen:

"Dass du verletzt bist, ist nur zu verständlich". Ich stieß geräuschvoll die Luft aus, um ihm zu verstehen zu geben, dass er damit ins Schwarze getroffen hatte. "Ich muss das jetzt auch nicht mehr wiederholen, dass wir dich nicht absichtlich verletzen wollten. Ich gehe davon aus, dass du so vernünftig bist, um dir das selbst an drei Fingern abzählen zu können". Er machte eine Pause und ließ seine Worte wirken, und ich senkte meinen Blick, sagte aber weiterhin nichts.

"Du bist mir sehr wichtig. Ich habe dich kein bisschen weniger lieb als deine Schwestern, wir sind eine Familie, so habe ich das immer gesehen. Und ich möchte auf keinen Fall, dass das zerbricht. Ich weiß, dass du jetzt Zeit brauchst, aber ich möchte unsere Männertage weiterhin haben, ich möchte, dass du mir weiterhin vertrauen kannst. Sage mir, was ich tun kann, damit du wieder das Gefühl haben kannst, dich mir immer anvertrauen zu können", forderte er mich auf. Seine Worte waren kraftvoll, denn ich spürte, wie ernst es ihm war, dass unser bisher gutes Verhältnis nicht zerstört wurde. "Du musst dich nicht gleich entscheiden, ich verstehe, wenn du durcheinander bist und jetzt nicht klar denken kannst. Du kannst uns jederzeit fragen, was du wissen möchtest. Wir wollen dir helfen, so dass es für dich leichter wird, dass alles zu akzeptieren"

"Das habe ich bei Mama gesehen", sagte ich.

"Für Mama ist es noch schwerer als für mich", verteidigte er sie. "Sie ist jetzt einen Spaziergang machen, um ihren Kopf wieder klar zu bekommen, sie wollte nicht mal, dass ich mit gehe".

"Warum ist es für sie so schwer?", wollte ich wissen.

"Ich weiß nicht, ob ich dir das ohne Mama sagen kann...", stammelte mein Vater unsicher.

"Hat es mit meinem leiblichen Vater zu tun?", fragte ich ihn.

"Ja", gab er mir knapp zur Antwort, und mein Herz klopfte laut. Die wildesten Gedanken kamen mir in den Sinn. War er etwa ein... Verbrecher? Was hatte Mama wegen ihm durchmachen müssen? Jetzt drehte ich mich um und sah meinen Vater an.

"Hat mein leiblicher Vater Mama etwa...?". Ich konnte den Satz nicht beenden, zu schrecklich war allein der Gedanke daran. Mein Vater blickte mich zuerst verständnislos an, dann begriff er und sagte:

"Nein! Nein, das nicht, Gott bewahre! Auch wenn man... nicht nur Gutes über deinen leiblichen Vater sagen kann, aber du wurdest völlig einvernehmlich gezeugt". Mir fiel sofort ein Stein vom Herzen, auch wenn diese Worte aus seinem Mund wirklich seltsam waren.

"Hast du ihn gekannt?", wollte ich weiter wissen.

"Nein. Und das ist auch besser so", gab er zur Antwort.

"Warum? Was ist denn mit ihm?"

"Das sagt dir am besten Mama selbst", gab er zurück.

"Was ist, wenn sie das nicht möchte? Er scheint ja nicht gerade eine Perle von Mensch zu sein, oder?"

"Aber Mama wird sich wieder beruhigen und dir dann sicher mehr erzählen. Ich habe nicht das Recht, das zu tun, außerdem solltest du alles aus 1. Hand erfahren und nicht um drei Ecken. Und denke daran: Wir sind für dich da".

"Ja", sagte ich. Mein Vater ging damit zur Tür, ging hinaus, und noch bevor er sie wieder schloss, sagte er:

"Und was ich dir noch sagen wollte: Ich habe Angst, dich zu verlieren. Denn schließlich bist du mein Sohn".

Megara

Ich starrte auf das Wasser des kleinen Sees, an dem ich seit einiger Zeit stand. Fische zeigten sich immer wieder an der Wasseroberfläche und verschwanden dann wieder in den dunklen Tiefen. Diese Tiefen waren genau so dunkel, wie es sich auch in mir drin anfühlte.

 

Dieses Gefühl, einen extrem wichtigen Punkt im Leben so falsch gemacht zu haben, tat einfach unsagbar weh. Dass Sven sauer war, konnte ich sogar verstehen. Aber es machte mir richtiggehend Angst, wenn ich daran dachte, dass an dieser Sache unsere Familie zerbrechen könnte.

Ich setzte mich auf die Wiese, die recht kühl war. Gott sei Dank hatte ich mir noch was anderes angezogen, bevor ich gegangen war, denn es war ganz schön frisch geworden. An die Kühle, die in meinem Inneren herrschte, wollte ich gar nicht denken.

 

Nun also hatte mich meine Vergangenheit eingeholt. Was ich so erfolgreich vergessen hatte, war jetzt wieder aktuell. Erich Bahlsen war wieder in mein Leben getreten. Was, wenn Sven nach seinem Erzeuger fragte? Was sagte ich da? Dass dieser ein Schmarotzer war, der mir das Herz gebrochen hatte? Dass Svens Zeugung nichts mit Liebe zu tun gehabt hatte? Dass ich praktisch nichts von Erich wusste, außer, dass er wunderbar lügen konnte? Meine Güte, das alles war eine Katastrophe!

Aber ich konnte mir nichts vormachen: Diese Fragen würden kommen, dessen war ich mir völlig bewusst. Sven würde fragen, was damals passiert war. Und natürlich würde er so viel wie möglich über seinen leiblichen Vater erfahren wollen. Vielleicht hatte ich deshalb bisher geschwiegen und Erich vergessen. Weil die Erinnerung an ihn zu schmerzhaft war, weil die Zeit meiner Schwangerschaft nicht zu vergleichen war mit der, als ich mit den Zwillingen schwanger war. Außerdem erinnerte es mich daran, wie schwer es mir anfangs gefallen war, Sven meine ganze Liebe zu schenken. Als mit Manu dann in meinem Leben alles gut wurde, wir eine Familie wurden, rückte diese dunkle Vergangenheit in Vergessenheit.

 

Was hätte ich darum gegeben, wenn sie auch genau dort geblieben wäre.

 

Aber dem war nicht so, ich musste mich damit auseinandersetzen, einen riesigen Fehler gemacht zu haben. Sven war fast volljährig - ich konnte mir doch nicht vormachen, dass es in 18 Jahren keine Möglichkeit gegeben hatte, ihm die Wahrheit zu sagen. 

Das Klingeln des Handys durchbrach meine Grübeleien. Ich musste nicht mal auf das Display schauen, um zu wissen, wer da dran war.

"Liebling, wie geht es dir?", fragte mich Manu sanft.

"Wahrscheinlich genau so wie dir auch", sagte ich.

"Ja, das ist wohl wahr. Ich habe gerade mit Sven gesprochen", sagte er dann.

"Und? Was hat er gesagt?", fragte ich aufgeregt.

"Nicht viel. Aber er hat sicher viele Fragen, ich habe ihm gesagt, dass du ihm das alles selbst sagen solltest, weil ich ja auch nur alles aus deinen Erzählungen kenne und außerdem denke, dass es richtiger ist, wenn du das machst. Das hat er verstanden".

"Und was denkst du, wie stehen die Chancen, dass er uns verzeihen kann? Ich mache mir die schlimmsten Vorwürfe. Und ich habe schreckliche Angst, dass er sich von uns abwenden könnte".

"Ich auch, Meg, glaube mir. Ich auch. Aber er hat mir jetzt ja schon mal zugehört, das war ja nicht das schlechteste Zeichen. Ich denke, wenn du mit ihm gesprochen hast wird er einiges besser verstehen. Aber er braucht jetzt Zeit, das ist klar. Wir müssen geduldig sein".

"Ja", sagte ich kraftlos in den Hörer. Und hoffte, dass ich auch wirklich geduldig sein konnte.

Ich versprach Manu, bald nach Hause zu kommen, dann legten wir auf.

 

Ich hoffte so sehr, dass sich das alles zum Guten wenden würde.

Ich musste das mit Sven klären, wir beide allein. Es war Samstag und somit schulfrei, und während andere Teenager diesen freien Tag nutzten, um sich zu treffen, ins Schwimmbad oder ein Eis essen zu gehen, stand mein Sohn bei uns im Garten und pflegte seine Pflanzen. Es war so schön, dass er das von meinem Vater geerbt hatte.

Ich wusste noch gar nicht, wie ich anfangen sollte, als ich sagte:

"Sven? Kann ich mit dir reden?". Er erhob sich und sah mich mit einem Blick an, den ich so noch nie an ihm gesehen hatte. Traurig sah er aus, aber auch sauer. Und er sagte kein Wort.

Also begann ich zu reden.

"Ich weiß, dass du sauer bist", sagte ich.

"Weniger sauer denn enttäuscht", gab er zurück.

"Ja, und es tut mir leid, Sven. Wir haben ja schon gesagt, dass wir den richtigen Zeitpunkt völlig verpasst haben, um dir zu sagen, dass Papa nicht dein biologischer Vater ist".

"Das habt ihr in der Tat", sagte er. In seinem Blick flackerte es, und ich konnte nur ahnen, wie sehr ihm die Tatsache, einen anderen biologischen Vater zu haben, zu schaffen machte.

"Hör zu, ich glaube, es ist wichtig, dass du weißt, warum ich das so gerne vergessen habe. Warum ich an unserer Familie festgehalten habe". Nun sah man ihm an, dass er neugierig geworden war. So ermutigt fasste ich mir nun ein Herz und begann, von der Zeit mit Erich zu erzählen.

Ich erzählte ihm davon, wie wir uns kennenlernten, dass er der Vorbesitzer der Grafschaft gewesen war, wie er mir geschmeichelt hatte, und dann, als ich schwanger gewesen war, mich fallen gelassen hatte wie eine heiße Kartoffel. Ich erzählte Sven in vorsichtigen Worten, dass Erich ein Mensch war, der nach sich schaute und die anderen ausnutzte. Doch entgegen meiner Erwartung, dass uns Sven nun besser verstehen konnte, verdüsterte sich sein Blick, je mehr ich erzählte. Als ich an der Stelle angekommen war, dass sich Erich vor der Verantwortung, ein Kind zu haben, gedrückt hatte und einfach verschwunden war, unterbrach mich Sven:

"Das sagst du doch jetzt nur so! Nur, damit ich nicht auf die Idee komme, meinen Vater zu suchen! Du machst ihn absichtlich schlecht!"

Ich sah meinen Sohn geschockt an.

"Nein, Sven! Du musst mir glauben! Ich habe dir die Wahrheit gesagt!"

"Das glaube ich dir nicht!", sagte Sven aufgebracht. "Mama, wir können das hier auch genau so gut lassen. Es bringt ja doch nichts". Und damit wandte er sich wieder seinen Pflanzen zu und beachtete mich nicht mehr.

 

Ich war fassungslos. Dass mir Sven nicht glauben könnte, an diese Möglichkeit hatte ich nicht mal gedacht. Dass er Zeit brauchen würde, das alles zu verstehen, das ja. Dass er mir nicht sofort um den Hals fallen würde, das war klar. Aber dass er mich als Lügnerin hinstellte, das hatte ich wirklich nicht erwartet. Weil ich wusste, dass ich jetzt keine Chance mehr hatte, an ihn ranzukommen, machte ich mich aufseufzend auf den Weg ins Haus. Die Lage war nicht gut, ich fühlte eine Schwere in mir, die mich niederzukämpfen drohte.

Einige Tage später hatte sich nichts gebessert. Sven ging mir aus dem Weg, so gut es ging, und auch Papa gab Anlass zur Sorge: Er konnte sich zu nichts mehr aufraffen. Stundenlang saß er auf der Couch oder lag im Bett, starrte an die Wand oder schlief. Der Tod meiner Mutter lag nun schon einige Monate zurück, aber er erholte sich davon einfach nicht richtig. Wir alle vermissten sie, doch wir anderen hatten es geschafft, unser Leben ohne sie weiterzuleben, doch er leider nicht.

 

Auch jetzt war es schon Mittagszeit, das Frühstück hatte er verschlafen, doch nun wollte ich ihn unbedingt wecken, so dass er etwas zu sich nehmen konnte.

Schon als mein Blick auf ihn fiel, sah ich sofort, dass etwas nicht stimmte.

"Papa?", krächzte ich kaum hörbar und zitterte urplötzlich am ganzen Körper. Mein Puls raste, als ich ihm den seinen an der Halsschlagader fühlen wollte. Nichts. Seine Haut war eiskalt. Und er atmete nicht.

Ich kreischte nach Hilfe und begann im selben Augenblick, zu weinen.

Manu hatte mich Gott sei Dank gehört.

"Was ist passiert?", fragte er, doch sein Blick fiel von mir auf meinen Vater und er verstand sofort. Ich bekam mit, wie auch er nach Lebenszeichen fühlte, dann mit dem Handy sofort den Notarzt alarmierte und noch versuchte, meinen Vater zu reanimieren. Ich konnte dem Ganzen kaum zusehen, weinte ohne Unterlass, war aber ansonsten wie gelähmt.

 

Die Ärzte waren schnell hier und versuchten ebenfalls noch, meinen Vater zu reanimieren, aber ohne Erfolg. Am Sonntag, den 1. September 2063 um 12.45 Uhr wurde der Tod meines Vaters Gabriel festgestellt.

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Heute war die Beerdigung auf dem Friedhof in Sunset Valley. Mir war schlecht und ich fühlte mich völlig kraftlos, als wir auf den Friedhof fuhren. Wir waren schon früh dran, und doch hatten sich hier schon einige Leute versammelt. Meine Eltern waren in der Stadt sehr bekannt und geschätzt gewesen, das wurde mir jetzt wieder richtig bewusst und dieses Bewusstsein ließ erneut die Tränen bei mir fließen. Manu sah mich tröstend an und nahm mich in den Arm. Er sagte nichts, denn er wusste, dass mich kein Wort in diesem Moment trösten konnte. Ich sah in die Gesichter der Menschen. Manche waren bestürzt, einige davon konnten ihre Tränen ebenfalls nicht zurückhalten.

Wie erstarrt folgte ich der Predigt des Pastors und verstand doch kaum etwas davon, was er sagte. So fühlte ich mich schon seit dem Moment, als die Notärzte den Tod festgestellt hatten. In den letzten Tagen waren unzählige Beleidsbekundungen bei uns eingegangen, wir hatten die Beerdigung geplant, und die Kinder getröstet. Und nun also würde mein Vater neben meiner Mutter ins Grab gelassen werden. Von allen Seiten hörte ich ein Schluchzen, alle waren zutiefst betroffen. Dass nun nach meiner Mutter auch mein Vater nicht mehr hier war, war für mich einfach unbegreiflich.

Der Sarg mit den Lieblingsblumen meines Vaters wurde in das tiefe Loch gelassen, und nun war es an uns, ihm noch Blumen oder Erde hinterherzuwerfen.

Wir Familienmitglieder hatten jeweils eine Rose, und auf wackeligen Beinen ging ich zum Grab, um meine Blume runterzuwerfen. Es war so surreal, ich wollte mir gar nicht vorstellen, dass in dieser Kiste mein Vater lag, und doch dachte ich an nichts anderes. Das durfte einfach alles nicht wahr sein.

Manu hielt mich fest, als wir den anderen dabei zusahen, wie auch sie meinem Vater die letzte Ehre erwiesen.

Auch für die Kinder war es ein sehr schwerer Gang. Sie hatten ihr letztes Großelternteil verloren, Sven außerdem sein Vorbild. Um ihn machte ich mir am meisten Sorgen. Er hatte nun zwei schwere Dinge zu verarbeiten.

Die nächsten Tage waren hart. Es war, als befände ich mich in einem Vakuum, als wäre in meinem Kopf ein dichter Nebel, der mir alles verschleierte. Ich versuchte, an meinem aktuellen Roman weiterzuarbeiten, um auch Ablenkung zu erfahren, aber das war unmöglich - es ging nichts. Einfach nichts. Immer wieder brachen sich Tränen ihren Weg aus meinen Augen Bahn.

 

Ich fühlte mich, als hätte man einen Teil meiner Wurzeln abgehackt. Auch wenn man erwachsen war, traf es einen wie Hammerschläge, seine Eltern zu verlieren. Ein Teil von mir lebte hier das ganz normale Leben weiter, der andere Teil war irgendwo gefangen. Manu kümmerte sich rührend um mich, wenn er da war. Er beantwortete die Trauerkarten, obwohl er wirklich schon genug zu tun hatte, doch jedesmal, wenn ich mit den Karten angefangen hatte, hatten mich die geschriebenen Worte auf den Karten wieder so tief getroffen, dass ich geweint hatte und nicht mehr hatte schreiben können. Manu wäre auch gerne hier bei mir geblieben, nur konnte er ja nicht alles stehen und liegen lassen, die Geschäfte mussten weiterlaufen, und ich war zu oft mit meinen trüben Gedanken allein.

Auch heute saß ich vor meinem Computer und brachte keinen vernünftigen Satz zustande. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, die geschriebenen Sätze gaben beim Nachlesen keinen Sinn mehr und ich musste sie wieder löschen.

Manu, der nach dem Frühstück wieder nach Sim City fahren würde, kam auf mich zu.

"Das bringt gerade nicht sehr viel, oder?", fragte er mich und nickte zum PC hin.

"Nein", gab ich sofort zu und Manu nahm mich in den Arm.

"Lass dir Zeit. Wenn es jetzt nicht geht, dann geht es nicht, deine Lektorin hat sicher Verständnis, wenn du später abgibst", meinte er überzeugt.

"Sie vielleicht schon, aber meine Leser bestimmt nicht", sagte ich traurig.

"Das kann ich mir nicht vorstellen", sagte Manu. "Ich würde zu gerne hier bleiben, aber du weißt ja, was heute so ansteht. Ich kann nicht frei machen"

"Das ist doch in Ordnung", sagte ich, obwohl es mir tatsächlich lieber gewesen wäre, wenn er hätte da bleiben können. Aber ich verstand natürlich, warum das nicht ging.

"Mache dir die nächsten Tage frei, Schatz. Übermorgen ist Wochenende, dann bin ich wieder da, solange kannst du ja Sam fragen, ob er Zeit hat und die zwei Tage kommen kann"

"Ja, das kann ich machen", sagte ich.

 

Als Manu dann weg war, rief ich dann wirklich Sam auf dem Handy an. Der befand sich zur Zeit nur leider am anderen Ende von Deutschanien, weil dort am Wochenende ein Spiel seiner Mannschaft war, die er trainierte. Da sich die Kinder zur Zeit ebenfalls kaum im Haus aufhielten, würde ich wohl die nächsten zwei Tage die meiste Zeit alleine sein - ein sehr unangenehmes Gefühl.

Als Manu am Wochenende wieder da war, gingen wir gemeinsam auf den Friedhof. Die Blumen begannen so langsam zu verwelken, aber das Doppelgrab meiner Eltern sah trotzdem so aus, dass es ihnen beiden gefallen hätte, davon war ich überzeugt. Und das war doch tröstlich zu wissen. Auch hier hielt mich Manu fest umschlungen, er war mir eine große Hilfe. Schon allein, dass er keine blöden Floskeln benutzte von wegen, dass das Leben für uns ja weitergehen musste oder so etwas. Nein, er ließ mich so trauern, wie ich es musste.

 

Das Zimmer, in dem meine Eltern geschlafen hatten, ließen wir erst Mal so, wie es war. Viola würde in das ehemalige Zimmer von Samuel ziehen, so dass die Mädchen ihre eigenen Zimmer hatten, bis jetzt teilten sie sich noch eines. Wir hatten in dem Schlafzimmer meiner Eltern lediglich die Papiere sortiert, die wir jetzt für die diversen Angelegenheiten benötigt hatten. In dem Zug waren uns viele Erinnerungsstücke in die Finger gekommen, aber auch Sachen, die ich bisher noch nicht gekannt hatte, wie z. B. ein paar nette Briefe, die mein Vater vor vielen Jahren an eine Vilja Sommer geschrieben hatte. Damals war er noch nicht mal mit meiner Mutter zusammen gewesen.

Ich war einige Tage nicht in der Firma gewesen, doch an diesem Montag war es fast unumgänglich, da wir eine Vorstandssitzung hatten. Der wollte ich natürlich beiwohnen.

 

Ich hatte mich am Wochenende bereits in die Agenda eingelesen, und war nun dabei, mir die neuesten Tabellen anzusehen. Die Sitzung würde schwierig werden, so viel stand fest. Ich wusste, dass die meisten der Vorstände unser Unternehmen noch mehr auf die Erfolgsspur bringen wollten und nach ihren Aussagen ging das am Besten, in dem man Personalkosten einsparte.

Und genau das bereitete mir Bauchschmerzen. Ja, ich wusste, dass unsere Personalkosten wie in jeder anderen Firma auch der größte Posten auf der Verlustseite waren. Überall wurden den Mitarbeitern klar gemacht, dass sie allein schuld waren, dass das Unternehmen ja so viel Minus gemacht hatte. Also mussten sie damit klar kommen, für drei zu arbeiten, weil Kollegen entlassen wurden und arbeiteten bis zum Umfallen. Außerdem wurde gerne mal gesagt, wie austauschbar jeder einzelne war, und nur wer 110 % seiner Leistung gab, würde weiterbeschäftigt werden können. Durch diese Maßnahmen brachten sich viele Firmen in astronomische Gewinnzonen, Mitbewerber, die anders dachten, blieben da gerne mal auf der Strecke. Vom Mittelstand oder den kleinen Unternehmen, die so gar keinen Fuß mehr fassen konnten, redete ich ja gar nicht erst. 

 

Es war ein Trauerspiel. Durch diese Mitarbeiterpolitik wurden die Menschen krank. Körperlich völlig fertig, kam auch der psychische Druck und die damit verbundene Unzufriedenheit hinzu. Für viele Chefs war das kein Problem, schließlich konnte ein kranker Mitarbeiter dann aussortiert und durch einen neuen, gesunden und vor allem viel billigeren ersetzt werden.

 

Ich war da immer dagegen gewesen. Mir war immer wichtig, dass unsere Mitarbeiter zufrieden waren. Zufriedene Mitarbeiter waren solche, die gute Arbeit leisteten und deshalb gute Qualität ablieferten. Nach dieser Philosophie wollte ich zusammen mit Manu die Firma leiten. Blöd nur, dass auch die Kunden lieber weniger gute Qualität kauften, wenn sie dafür nur billig war. Ein Unternehmen wie unseres, welches die Mitarbeiter fair bezahlte und gute Qualität ablieferte, konnte seine Produkte nicht zu Wühltischpreisen verkaufen. 

 

Manu selbst stand zwischen den Stühlen. Er stand selbst hinter dieser Firmenphilosophie, schaute aber als waschechter Kaufmann auch danach, dass unsere Firma gut Gewinn abwarf, um konkurrenzfähig zu bleiben. Er verstand also beide Seiten, stellte sich aber in den Sitzungen nie gegen mich.

 

Ich seufzte schwer auf. Wieder war ein halbes Geschäftsjahr vergangen, wieder würden die Zahlen auf den Tisch kommen. Und es war ganz klar, was die Vorstände wollen würden, denn unsere Firma war im direkten Vergleich mit den Konkurrenzfirmen, was den Firmengewinn an ging, auf dem dritten Platz gelandet. Das würde ihnen zu wenig sein.

Noch mal musste ich tief ein- und wieder ausatmen, dann stand ich auf und ging zu der Kommode, auf der der kleine Affenbrotbaum stand, den ich mir als Souvenir von einer unserer Reisen mitgebracht hatte. Das war nun auch schon wieder zwei Jahre her, in den letzten Monaten war wegen der Todesfälle nicht mehr an einen Urlaub zu denken gewesen.

 

Beim Gedanken an meine Eltern, die nun beide nicht mehr da waren, wurde ich sofort wieder tief traurig.

Ich erinnerte mich an die Flitterwochen meiner Eltern und unsere damit verbundene Reise nach Frankreich. Auch wenn mein Vater seinen Garten geliebt hatte, so hatte er meine Mutter doch in den letzten Monaten so oft es ging nach China begleitet.

Während ich noch so in Gedanken war, sprach mich plötzlich Manu an. Ich erschrak, weil ich gar nicht gehört hatte, wie er das Zimmer betreten hatte.

"Wie geht es dir?", fragte er mich sanft.

"Es geht", sagte ich.

"In einer Viertelstunde geht die Sitzung los. Willst du wirklich mit?"

"Ja, das möchte ich", sagte ich, so fest es nur ging. Doch Manu musterte mich kritisch. Er schien abzuwägen, ob es wirklich gut war, dass ich der Sitzung beiwohnen wollte, sagte dann aber:

"In Ordnung. Vielleicht ist es ganz gut, wenn du dabei bist. Kann ich noch etwas für dich tun, bevor wir uns jetzt gleich da rein stürzen?".

Doch bevor ich antworten konnte, klopfte es an der Tür, und nach meinem "Herein" kam Viktor rein.

"Ich werde in unserem Besprechungsraum vergehen! Irgendetwas ist mit der Klimaanlage nicht in Ordung". Ja, das war mir auch schon aufgefallen. Heute war ein sehr warmer Spätsommertag, was wir hier drin normalerweise nicht spürten. Aber heute war es wirklich drückend heiß.

"Ich habe Frau Behringer schon gesagt, dass sie einen Handwerker anrufen soll, der sich darum kümmert", sagte Manu.

Auch Silas gesellte sich schon kurz darauf zu uns, der ähnlich klagte wie Viktor noch gerade eben.

"Ich hoffe, dass genügend kalte Getränke da unten stehen. Da pappt einem ja die Zunge am Gaumen fest!"

"Guck du lieber mal, dass du deine Krawatte noch anziehst", tadelte Manu gespielt streng. "Dresscode, das weißt du ja!"

"Du rennst ja auch noch ohne Jacket im kurzärmeligen Hemdchen herum", gab Silas unbeeindruckt zurück. Die beiden frotzelten gerne mal miteinander, was ich sonst auch immer sehr lustig fand. Nur heute erreichte mich dieser Humor nicht.

"Ja, aber nicht mehr lange", sagte Manu. "Gut Leute, ich glaube, wir werden erwartet. Machen wir uns fertig. Ihr wisst, welche Linie wir fahren werden, Megara hat am Wochenende meine Aufzeichnung von unserem kleinen Meeting gelesen, sie ist also im Bilde". Ja, das war ich tatsächlich. Die drei Männer hatten sich schon vorab getroffen und überlegt, welche Lösungsmöglichkeiten man wegen der Gewinnzahlen des letzten halben Geschäftsjahres dem Vorstand anbieten könnte, und ich war erleichtert gewesen, dass die drei übereingekommen waren, dass wir an unserer Personalpolitik festhalten würden. Viktor und Silas verließen dann mein Büro, um sich korrekt zu kleiden, und auch Manu zog sich sein Jacket über, bevor wir dann losgingen.

Wie zu erwarten wurde in der Sitzung dann heftig diskutiert. Der Vorstand war mit dem dritten Platz überaus unzufrieden. Es kamen die Vorschläge, Personal abzubauen, dann auch solche absurden Überlegungen, das Werk in Frankreich zu schließen, nur weil die bis jetzt kaum in die Gewinnzone gelangt waren.

 

Manchmal fragte ich mich wirklich, was in meiner eigenen Firma eigentlich für Menschen arbeiteten. Die Dame neben mir war auch so ein Exemplar, Barbara Kleinsen hieß sie, und sie war eine absolute Verfächterin der je-weniger-Mitarbeiter-desto-besser-Politik.

Aber es war gut, dass wir vier Geschäftsführer und -leiter an einem Strang zogen. Und Manu argumentierte ruhig und ausgesprochen gut, auch Silas und Viktor hatten ihre Hausaufgaben gemacht. Die Punkte, die mir wichtig waren, wurden angesprochen. Davon, einen Namen zu verlieren, davon, dass wir mit diesem Namen für gute Qualität standen. Ich selbst beteiligte mich so gut es ging an den Gesprächen, fühlte mich aber den Wortschwällen der anderen öfter nicht gewachsen.

 

Es wurde lange gesprochen, und wir sagten den Vorständen, dass wir die nächsten beiden halben Geschäftsjahre abwarten wollten, um dann mit diesen neuen Zahlen zu arbeiten. Das wurde zum Glück akzeptiert.

Nach der Sitzung war ich kaputt. Es hatte mich viel Kraft gekostet, zu diskutieren und den eigenen Standpunkt darzulegen, Kraft, die ich gerade eigentlich gar nicht besaß.

"Schatz, ich glaube, für heute reicht es, oder?", fragte mich Manu. Ich nickte müde.

"Das war hart. Aber wir waren erfolgreich", sagte ich und versuchte ein Lächeln.

"Ja, das waren wir. Wollen wir hoffen, dass es auch die richtige Entscheidung war". Manu dachte natürlich weiter, und das war ja auch gut so.

"Ja, hoffen wir es. Bleibst du noch da?", fragte ich. Es war zwar schon 17.00 Uhr vorbei, aber Manu blieb oft noch länger hier.

"Nein, ich gehe mit. Alles andere muss dann eben mal warten", meinte er, also machten wir uns auf den Weg zu Manus früherem Haus, in dem immer noch Tatjana lebte. Da sie gerade aber auf einer Fernstrecke flog, hatten wir das Haus für uns allein.

Am Wochenende lud mich Manu zu einem Spaziergang am Strand von Sunset Valley ein. Dem stimmte ich natürlich zu.

 

Ich genoss das Rauschen der Wellen und wir spazierten einige Zeit völlig still. Eine leichte Brise umhüllte uns, der leichte Geschmack des Salzes lag in der Luft und ich sog diese gute, frische Luft tief in mich ein. Ich liebte das Meer und ich war schon viel zu lange nicht mehr hier gewesen, weder hier noch in Sim City.

Ich bemerkte, dass Manu mich immer wieder von der Seite ansah. Als ich mal seinen Blick auffing, sah ich seine Besorgnis darin. Doch bevor ich das Wort an ihn richten konnte, um ihm zu sagen, dass er sich nicht sorgen musste, begann er zu sprechen:

"Meg, ich habe mir in den letzten Tagen etwas überlegt", begann er. Nun sah ich ihn fragend an. An seiner Stimme hörte ich ihm an, dass es nichts Unwichtiges war, was er gleich sagen würde.

"Und was?", fragte ich ihn deshalb neugierig und blieb stehen. Er tat es mir nach.

"Nun, ich weiß ja, dass du gerade sehr zu kämpfen hast. Zuerst die Sache mit Sven, dann der Tod deiner Eltern. Du bist zwar stark und versuchst, alles wieder so laufen zu lassen wie zuvor, doch ich sehe, dass es einfach über deine Kräfte geht. Du bist ja nur noch ein Schatten deiner selbst", sagte er mir. Das so zu hören war zuerst ein Schreck, wer wollte denn schon hören, dass er im Moment einfach nicht die Leistung bringen konnte, die er eigentlich müsste?

"Aber ich versuche doch wirklich, dass...", begann ich, weil ich mich rechtfertigen wollte, doch Manu unterbrach mich.

"Schatz, jeder versteht das, das sollte jetzt absolut kein Vorwurf sein!", sagte er rasch. "Aber ich sehe ja auch, dass du nun seit Wochen nicht mehr auf die Beine kommst". Das war zwar wahr, aber was wollte er jetzt damit sagen?

"Und was genau willst du nun sagen?", fragte ich deshalb nach. Manu zögerte noch kurz, bevor er antwortete:

"Ich denke, dass dir eine Auszeit ganz gut täte", ließ er dann die Katze aus dem Sack. "Vielleicht eine Erholungskur. Was hälst du davon?". Eine Kur? Brauchte ich das wirklich? War ich zu schwach, wieder von selbst auf die Beine zu kommen? Musste da wirklich so eine Hilfe sein?

"Ich weiß nicht, ob ich das wirklich brauche. Dort draußen gibt es sicher genug Menschen, die wirklich wichtige Gründe für eine Kur haben, und einem davon würde ich den Platz wegnehmen", meinte ich zögerlich.

"Meg!", sagte Manu. "Das ist wieder so typisch für dich. Ich weiß, was ich sehe, außerdem hat dir so etwas ähnliches doch auch schon Sam gesagt, oder? Er sprach von einer Selbsthilfegruppe, was auch eine gute Idee wäre. Ich denke aber, dass du dringend einen Tapetenwechsel brauchst".

"Tapetenwechsel weg von dir, oder wie?", fragte ich und nahm ihn in den Arm. Ich vermisste ihn ja schon, wenn er mal zwei Tage in Sim City war, wie würde es erst sein, wenn ich mehrere Wochen weg war?

"Nein, das meinte ich nicht, und das weißt du auch", sagte er leise.

"Ja, ich weiß", gab ich zu. "Ich bezweifle nur, dass ich woanders Kraft tanken kann. Wir könnten doch auch in den Urlaub fahren, da wärst du dabei"

"Ja, nur kann ich gerade keinen Urlaub machen", gab Manu zu bedenken. Die Firma, natürlich. Aber er hatte recht. Da ich selbst im Moment keine große Hilfe war, hatten die drei Männer ja nun meine Aufgaben auch noch zu tun. "Lass uns doch einfach mal ein paar Kurhäuser anschauen, ganz unverbindlich. Vielleicht gibt es ja eines, dass dir gefällt, wo die Leistungen stimmen und wo du wieder Kraft tanken könntest. Wollen wir es so machen?". Ich sah selbst, dass er recht hatte. Die letzten Wochen waren sehr schwer gewesen, und wenn wir uns nur mal ein paar Häuser ansehen würden, hieß das ja nicht, dass ich gehen musste, wenn ich nicht wollte. Also stimmte ich zu, und wir gingen zurück nach Hause.

Bei unserer Suche nach einem Kurhaus, das mir gefallen könnte, passierte etwas Seltsames: Wir waren in einem Ort namens Coldoroda, einem kleinen Ort mit dörflichem Charakter, und schauten uns das Kurhaus dort an. Die Einrichtung befand sich in einem alten Herrenhaus, rechts daneben befand sich ein neueres Gebäude, durch dessen große Fenster man das Schwimmbad erkennen konnte. Und ich hatte mich sofort wohl gefühlt. Es war, als würden die alten Mauern mir sagen wollen: Komm, Megara! Hier wird es dir bald wieder besser gehen! Tritt ein!

 

Wir wurden dann auch schnell mit der Kurleitung einig, der Termin wurde festgelegt und mein Programm ausgearbeitet. Und nun standen wir an einem sonnigen Herbsttag frühmorgens hier vor dem "Dr. Barbara Kanzig Kurhaus". Der Name des Hauses rührte von der Gründerin dieser Einrichtung her.

Manu hatte mich hergefahren, es war ein Sonntag und er hatte frei. Er lud mein Gepäck aus dem Auto, während die Sonne die Häuser in ein warmes Licht tauchte. Ich sah in der Zeit mit gemischten Gefühlen auf das Haus, das in den nächsten Wochen mein Zuhause sein würde.

Es war ein schönes Haus mit einem großen, schon fast parkähnlichen Garten. Wie Manu und ich schon bei der Erstbesichtigung festgestellt hatten, war das Haus auch innen komplett renoviert worden. Die medizinischen Einrichtungen sowie der Wellness-Bereich waren neu. Auch wenn ich wusste, dass man sich hier gut um mich kümmern würde, tat mir dieser Schritt doch weh. Es war, als hätte ich ein wichtiges Spiel verloren. Das Spiel war in diesem Fall mein geordnetes Leben, und dass ich das nicht mehr selbst auf die Reihe bekommen hatte, war wie eine Niederlage. Die Blätter der Bäume, die braun, gelb und rot zu Boden fielen, taten ihr übriges zu dieser Stimmung.

"Alles in Ordnung?", fragte mich Manu und riss mich damit aus meinen trüben Gedanken.

"Klar!", schwindelte ich und versuchte mich in einem aufrichtigen Lächeln. Manu sah mich nur kurz an, dann sagte er trocken:

"Du konntest noch nie gut lügen, Meg". Ich ließ meine Maskerade fallen und sah ihn traurig an.

"Ja, bei dir habe ich da einfach keine Chance". Manu streichelte mir über die Schulter.

"Du weißt, dass mir das auch nicht leicht fällt. Vor allem, weil ich mir selbst Vorwürfe mache, dass ich in den letzten Wochen nicht genug für dich da sein konnte...", sagte er, doch ich ließ ihn gar nicht ganz ausreden.

"Und ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass dich keinerlei Schuld trifft! Du hast wirklich getan, was du konntest, hast mich mehrmals täglich angerufen, wenn du in der Firma warst, hast mit mir gesprochen, wenn du da warst, mich getröstet und in den Arm genommen. Hast alles versucht, um zwischen mir und Sven zu vermitteln, hast da immer einen kühlen Kopf bewahrt. Und das, wo dich das alles ja auch betrifft, es ist ja nicht nur meine Sache. Du hast deine Schwiegereltern verloren, mit denen du dich gut verstanden hast, und dich trifft das mit Sven genauso wie mich. Ich muss mir Vorwürfe machen, dass ich dich jetzt mit allem alleine lasse und dass ich es nicht geschafft habe, aus diesem Loch zu kommen". Ich holte tief Luft. Manu sah mich ernst an.

"Ich hoffe, dass das eines der ersten Dinge sein wird, die sie hier von dir weg bekommen. Diese Selbstvorwürfe sind fehl am Platz, Meg", sagte Manu sanft. Ich sah das zwar nicht so, aber ich sagte erst Mal nichts mehr.

Manu und ich sahen uns an, und plötzlich war der nahende Abschied fast spürbar. Ich würde meinen Mann, den ich immer noch über alles liebte, nur sehr unregelmäßig und dann auch tagelang nicht sehen können. Ich war hier, um meine Trauer verarbeiten zu können und so wieder die Kraft zu bekommen, mit Sven ins Reine zu kommen, aber würde ich das tatsächlich schaffen, wenn ich von Manu getrennt war? Dieser Mann hier war mein Halt.

"Ich hatte mir so fest vorgenommen", begann Manu leise und seine Stimme krächzte ein wenig, "dass ich dir den Abschied nicht unnötig schwer machen würde. Aber ich werde dich furchtbar vermissen Meg, ich hoffe, dass ich dich bald besuchen kommen kann". Bei diesen Worten hatte mich Manu in den Arm genommen, und ich schmiegte mich an ihn.

"Ich werde dich auch vermissen, Manu", sagte ich zu ihm.

Dann gab mir Manu einen ganz sanften Kuss. Seit mein Vater gestorben war, hatten wir uns nicht mehr so geküsst.

 

Nach dem Kuss war es dann Zeit, in das Kurhaus zu gehen, so dass ich mich anmelden konnte. Manu wollte mich noch begleiten, aber ich sagte ihm, dass es wohl besser war, wenn er das nicht mehr tat, sonst könnte ich mich gar nicht mehr von ihm trennen. Es war jetzt schon schwer genug. Er verstand das, sagte, dass er hier im Ort noch in einem Cafe frühstücken würde und ich ihn jederzeit auf dem Handy erreichen könnte. Dann küsste ich ihn noch mal, nahm meinen Koffer und ging in das Haus.

 

Ohne mich noch einmal umzudrehen.

 

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