Sven

Es würde schon alles gut werden. Es musste einfach alles gut werden.

 

Ich konnte es nicht fassen, dass es Oma so schlecht ging. Und ich hoffte, dass sie sich wieder erholte und sie alle hierher nach Deutschanien zurück kommen konnten. Dann die Sorge um Viola, die sich scheinbar an keine der Regeln mehr halten wollte, die es in diesem Haus gab.

 

Ich ging in den Garten, um den ich mich in den letzten Monaten ja hauptsächlich gekümmert hatte und der mich immer beruhigte. Und diese Ruhe brauchte ich jetzt ganz, ganz dringend. Ich ging zu einem der neu gezüchteten Pomelo-Bäume, deren Rinde nun viel widerstandfähiger war als die der herkömmlichen Pomelos. Ich wusste von Mama und Papa, dass diese Züchtungen nun neu in das Sortiment aufgenommen werden würden, und das freute mich natürlich. Ganz besonders freute es mich, dass für meine Züchtungen, nämlich die immergrünen Rosen, jetzt schon einige Bestellungen vorhanden waren, obwohl man die noch gar nicht kaufen konnte. Ich hatte sogar einen Namen für sie aussuchen dürfen, und ich hatte sie meinem Opa gewidmet und sie "Gabriela" genannt. Ein weiblicher Name hatte es für eine Rose schon sein müssen, aber jeder hier im Haus wusste natürlich, dass ich sie wegen Opa so genannt hatte. Immerhin hatte ich mein ganzes Wissen von ihm.

 

Auch jetzt griff ich geübt in die Zweige des Baumes, um die Blätter und die Reife der Früchte zu kontrollieren. Einer der Zweige kratzte an meiner Haut am Handrücken, doch das spürte ich schon gar nicht mehr. Das gehörte dazu, genauso, wie der unverwechselbare Duft dieser Erde gemischt mit den Gerüchen der verschiedenen Gemüse- und Obstsorten. Diese Mischung hätte ich wirklich unter Tausenden erkannt. Und ich liebte diesen Duft. 

 

Ich zerrte dann noch mal die dünnen Seile fest, die wir um ein paar der Äste gebunden hatten, um sie in eine bestimmte Richtung wachsen zu lassen. Das musste sein, damit wirklich jeder Ast, der Früchte trug, genügend Platz hatte und Sonne abbekam. Man nannte das "erziehen", und es war für eine gute Ernte unerlässlich.

Die Tomaten waren erntebereit, und ich zupfte sie von den Sträuchern. Ein Teil kam zu uns in den Keller, der größere jedoch wurde verkauft. Unser Händler wartete schon auf eine neue Lieferung, und am nächsten Tag würde ich ihm nicht nur diese Tomaten, sondern auch einen ganzen Korb voller Äpfel bringen können.

Am nächsten Nachmittag traf ich mich dann noch mit Gustavo in der Stadt.

"Hey", begrüßte ich ihn.

"Hey, Sven", gab er zurück. "Und? Hast du etwas Neues von deiner Oma gehört?". Ich nickte.

"Sie ist immer noch im Krankenhaus. Es sieht nicht gut aus, hat meine Mutter beim letzten Telefonat gesagt", antwortete ich niedergeschlagen.

"Das tut mir leid", sagte mein Kumpel zu mir.

Wir gingen dann in das 50s und spielten ein bisschen Kicker mit ein paar anderen Leuten aus unserer Schule. Es lenkte mich ein wenig ab, aber doch nicht so, wie ich wollte. Meine Mutter hatte erzählt, dass auch Opa völlig neben der Spur wäre, und nun sorgte ich mich also nicht nur um Oma, sondern auch um ihn.

"Hast du eigentlich auch schon den Zettel am schwarzen Brett gesehen?", fragte ich ihn dann.

"Welchen Zettel?", fragte er zurück.

"Den, auf dem angekündigt wird, dass wir nun auch bald eine Theater-AG haben werden. Interessierte können sich am nächsten Freitag melden"

"Und du hast daran Interesse?", fragte Gustavo überrascht.

"Naja, ich wollte immer mal wissen, wie das so ist. Ich werde also mal hingehen. Wäre das nicht auch etwas für dich?", fragte ich ihn.

"Ne du, eher nicht. Ich kann mir das, um ehrlich zu sein, überhaupt nicht vorstellen", gab er ehrlich zu.

"Schade. Aber ich werde mir mal anhören, wie das so ablaufen soll, und vielleicht bringt mich das dann auch mal wieder auf andere Gedanken", erklärte ich.

"Gute Idee", stimmte auch Gustavo zu.

Am nächsten Morgen machte ich für mich und meine Schwestern Waffeln warm, die ich aus der Tiefkühltruhe geholt hatte. Dabei fiel mir auf, dass meine Kochkünste wirklich noch zu wünschen übrig ließen. Opa war da ganz anders, er hat immer wieder neue Gerichte mit unserem Gemüse und Obst ausprobiert. Und ich, der ja nun wirklich auch viel im Garten arbeitete, hatte mir noch nie die Zeit genommen, unsere Ernteprodukte auch selbst zu verkochen. Stattdessen gab es jetzt also Waffeln oder Pfannkuchen, und leider keine leckere Fruchtpastete von Opa.

Meine Schwestern wollten heute wohl gar nicht mehr aus den Federn. Ich war bereits mit Essen fertig, als sie immer noch nicht da waren. Ich seufzte auf. Von Viola erwartete ich gar nichts anderes mehr, aber Madeleine war doch immer zeitig aufgestanden, seit wir allein waren. Nur in den letzten Tagen war das nicht mehr so gewesen. Sie war auch recht wortkarg geworden, und ich fragte mich, was mit ihr los war.

Ich stellte meinen Teller in die Spülmaschine und die noch warmen Waffeln in den Kühlschrank. Dann ging ich nach oben, um mich zu duschen und schulfertig zu machen. Davor hatte ich noch mal an die Tür der Mädchen geklopft. Maddy war wach gewesen und hatte mir versichert, jetzt aufzustehen. Ich hoffte, dass sie das dann auch machte und Viola gleich mit aus dem Bett schmiss.

Als ich dann in die Schule kam, haute mir jemand fast die Eingangstür vor die Nase. Ich drehte mich um, um zu sehen, wer da morgens so gedankenlos durch die Welt irrte.

 

Natürlich.

"Was stehst du denn hier im Weg herum?", blaffte Lara mich an.

"Und du könntest ruhig deine Augen benutzen. Oder schläfst du noch?", fuhr ich sie an.

"Was regst du dich denn so auf? Deine Nase sieht doch eh so aus, als wärst du damit an so manche Tür gerannt", beleidigte sie mich schon wieder.

"Lieber eine platte Nase als kein Hirn", gab ich zurück und ließ sie stehen.

Im Klassenzimmer angekommen begrüßte ich Josè, einen Klassenkameraden von mir. Eigentlich wollte ich den Vorfall an der Tür schnell vergessen, doch Lara machte mir einen Strich durch die Rechnung.

"Hey, Hohenstein! Was soll das heißen?", fuhr sie mich sofort an, als sie in das Klassenzimmer gestürmt kam. Ich schenkte ihr nur einen kurzen Seitenblick.

"Hat ja lange gedauert, bis das mal bei dir angekommen ist", sagte ich nur und wandte mich wieder Josè zu. Dieser Stress hier mit Lara war mir echt zuviel und ich verfluchte den Tag, an dem ihre Eltern beschlossen hatten, hierher zu ziehen.

"Hohenstein", fauchte Lara, "Das nimmst du sofort zurück! Wenn hier jemand kein Hirn hat, dann doch wohl du! Hätte ich soviel Kohle wie ihr, dann würde ich mir eines kaufen!". Aha, jetzt war also mal wieder das Geld ein Thema. Ich wusste nicht, wer ihr gesteckt hatte, dass meinen Eltern die von Hoheinstein´s Garten- und Parkbedarf - Firma gehörte. Ich auf jeden Fall nicht, denn ich prahlte sicher nicht damit herum. Aber irgendwie hatte sie das wohl mal mitbekommen und nahm das gerne mal zum Anlass, mir etwas reinzuwürgen. Was sollte ich also darauf erwidern? Ich wollte auf keinen Fall, dass ich mich wie der reiche Schnösel anhörte, für den sie mich hielt, aber ich musste mich ja auch irgendwie wehren.

"Nur Geld im Kopf, was?", sagte ich dann. "Hätte ich mir ja denken können".

"Denken? Du? Das ich nicht lache! Und merke dir eines: Du weißt gar nichts von mir!", gab sie zurück, und ich erwiderte nur:

"Dito!"

Ich ließ sie dann stehen und bewegte mich ein paar Schritte von ihr weg. Und fühlte mich scheußlich. Es lag mir einfach nicht, mich öffentlich so mit jemandem zu streiten, auch wenn sie es verdient hatte, dass ich mir nicht alles gefallen ließ. Aber ich hätte viel lieber einfach meine Ruhe gehabt, hätte mich hier mit meinen Freunden unterhalten und gelernt. Mehr wollte ich doch gar nicht.

 

Lara war mit dem neuen Schuljahr neu in unsere Klasse gekommen. Sie war hierhergezogen, und anfangs hatte sie ganz normal versucht, sich in die Klassengemeinschaft einzufügen. Doch dann hatte sich irgendwann etwas verändert, und ich wusste nicht mal, was der Auslöser war. Aber seit diesem Tag hatte ich keine Ruhe mehr vor ihr. Ich versuchte mich so gut es ging zu wehren, aber viel lieber wäre es mir gewesen, wenn das überhaupt nicht nötig gewesen wäre.

Am Freitag darauf fand dann die Theater-AG statt, und ich schaute mir das ganze wirklich mal an. Der Lehrer, der diese AG leiten würde, war Herr Strobel, ein Kunstlehrer, den ich mal in der 7. und 8. Klasse gehabt hatte. Er hatte eigentlich immer eine Mütze auf, und ohne Bart hatte ich ihn noch nie gesehen. Auch andere Schüler aus der Oberstufe betraten nun den Saal, alles Interessierte, die hier vielleicht mitspielen würden.

Herr Strobel begrüßte uns alle und freute sich sichtlich, dass einige Schüler da waren. Klar, so ein Stück konnte man nur spielen, wenn es genug Leute gab.

Auch Josè war hier, und der rothaarige Junge hieß Emil und war eine Klasse unter mir. Ich kannte ihn nur flüchtig.

 

Herr Strobel begrüßte uns dann alle und sagte:

"Wie schön, dass ihr zu dieser neuen AG gekommen seid. Mit soviel Andrang hätte ich jetzt gar nicht gerechnet. Aber es freut mich natürlich, dass wir so viele Leute sind, dass wir hier ein Theaterstück auf die Beine stellen können". Er sah von einem zum anderen, und vielleicht überlegte er sich schon, wem er welche Rolle geben würde. Und wir wussten noch nicht einmal, welches Stück wir spielen würden. Doch genau das teilte uns der Strobel nun mit:

"Nun, ich habe mich für ein Stück entschieden, in dem es um gesellschaftliche Zwänge verbunden mit einer Liebesgeschichte geht. Das Stück heißt >Um alles Geld der Welt<". Aha. Das kannte ich nicht. "Ich teile jetzt jedem ein Textbuch aus, und dann kommt einer nach dem anderen auf die Bühne, um mir ein paar Sätze daraus vorzulesen. So kann ich sehen, wer für welche Rolle am Besten geeignet ist. Habt ihr alle Lust, mitzumachen?". Zustimmendes Gemurmel aus allen Ecken.

Als ich an der Reihe war, ging ich gerade auf die Bühne, als sich plötzlich die Tür öffnete, und Lara in das Zimmer stürmte.

"Tut mir leid, ich habe es nicht früher geschafft", entschuldigte sie sich für die Verspätung, und mir gefror das Blut in den Adern.

 

Nein.

 

Sie hatte sich doch offensichtlich in der Tür geirrt. Lara Luther hatte doch nicht wirklich vor, ebenfalls hier in der Theater-AG zu spielen.

"Das macht nichts", sagte Herr Strobel und lachte sie offen an, während er ihr ein Textbuch in die Hand drückte.

"Wie heißt du?", fragte er sie, weil er sie noch nicht kannte. Lara war ja erst zu Beginn des neuen Schuljahres hierhergezogen.

"Lara", antwortete sie, dann sah sie mich und auch ihr Gesicht versteinerte sich augenblicklich.

"Schön!", freute sich der Strobel. "Dann liest du dir bitte auf Seite 24 den oberen Abschnitt durch, du wirst die Marie sprechen und ich übernehme den Part von deiner Mutter. Ja?". Lara nickte und begann, ihren Text zu lesen, und der Strobel wandte sich wieder an mich: "Sven, du kannst jetzt loslegen".

Ich war supernervös. Ich hoffte, dass ich wenigstens ein paar vernünftige Worte herausbringen würde. Und der Strobel hatte mir ausgerechnet eine Textstelle der männlichen Hauptrolle gegeben, den jungen Mann namens Markus, der aus einem wohlhabenden Elternhaus kam und sich unsterblich in Marie verliebt hatte, ein Mädchen aus eher ärmlichen Verhältnissen. Meine Stelle, die ich vorlesen musste, war allerdings ein Dialog mit den Eltern von Markus, ein Streit. Ich musste jetzt hier etwas lauter werden und fragte mich, ob mir das überhaupt lag. Deshalb begann ich mit unsicherer Stimme:

"Ihr könnt mir gar nichts mehr sagen!", las ich, "Ich bin 19 Jahre alt und kann tun und lassen, was ich will!". Herr Strobel übernahm den Gegenpart:

"Du hast aber Verantwortung zu übernehmen! Und diese Marie ist ganz bestimmt nicht standesgemäß für uns! Wir erwarten, dass du dich noch heute von ihr trennst!"

"Das werde ich ganz bestimmt nicht tun!", sagte ich und versuchte, meiner Stimme einen wütenden Klang zu geben, weil im Buch die Regieanweisung Markus ist wütend und wird lauter stand. Ich wollte mich in Markus versetzen, den jungen Mann, der nicht die Frau lieben durfte, die er wollte. Ein Unding! Nicht auszudenken, wenn mir so etwas passieren würde! "Lieber verzichte ich auf all das hier, als das ich auf Marie verzichte!"

"Pass` auf, was du sagst, junger Mann! Sonst bist du schneller enterbt, als du schauen kannst!"

"Na und? Dann enterbt mich doch!", warf ich Herrn Strobel entgegen, der den Part von Markus` Vater gesprochen hatte. Dieser grinste mich jetzt an.

"Sehr gut, Sven! Du kannst dich wieder setzen!"

Ich verließ also die Bühne und setzte mich wieder auf einen der Stühle im Zuschauerraum. Nun konnte ich wenigstens entspannt den anderen zusehen, die jetzt noch vorsprechen mussten.

 

Am Ende dann bekamen wir unsere Rollen. Herr Strobel las von seiner Liste unsere Namen und die zugehörige Rolle ab.

"Sven, du spielst den Markus", sagte er nach einer Weile, als ich an der Reihe war, und ich war wirklich erstaunt. Ich hatte also tatsächlich die Hauptrolle bekommen! Unglaublich! Während ich schon grübelte, wie ich den Markus am Besten darstellen konnte, las der Lehrer die restlichen Namen vor. Laras Name nannte er am Schluss, weil sie auch am Schluss zu uns gestoßen war. 

"Lara, du bist die Marie", meinte er zu ihr, "du und Sven spielt also das Paar". Und ein Höllentor öffnete sich. Wie mechanisch wendete ich meinen Kopf Lara zu, die nur nickte. Sie hatte also die andere Hauptrolle bekommen.

 

Und damit musste ich mit Lara ein Liebespaar spielen.

Als ich nach Hause kam, war ich einfach nur sauer. Sauer, dass Lara in der AG mitmachte. Denn ich wollte das als Hobby für mich austesten, und nicht mal da hatte ich jetzt Ruhe vor ihr. Sauer, dass gerade wir beide die Hauptrollen bekommen hatten. Wusste der Strobel denn nicht, dass wir uns nicht grün waren? Nein, das wusste er nicht, fiel mir da ein. Dazu wohnte Lara noch nicht lange genug hier, denn ich hatte ihn zuletzt als Lehrer in der 8. Klasse gehabt, also vor drei Jahren.

 

Ach, Mist, aber trotzdem. Es war einfach nicht richtig.

Ich ging, durcheinander wie ich war, in mein Zimmer. Meine Ruheoase. Auch wenn noch Pflanzen fehlten, so hatte ich doch schon einiges grün hier drin und so fühlte ich mich einfach wohl.

Niedergeschlagen stellte ich meinen Rucksack neben den Schreibtisch ab. Eigentlich wären jetzt Hausaufgaben angesagt, aber ich war noch so aufgewühlt, dass ich mich zuerst noch ablenken sollte.

Notenbild ist verlinkt und führt zu einem Video.

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Zuerst ein bisschen Musik. Ich schmiss die neue CD von Katy Perry rein und hörte eine Weile der Musik zu. Die konnte einen wenigstens auf andere Gedanken bringen, Katy war echt cool, und mit Sicherheit nicht so biestig wie eine gewisse Frau Luther.

 

Gegen später ging ich dann in den Garten, die Hausaufgaben mussten jetzt eben mal warten.

Bei der nächsten Probe war ich nicht gerade locker. Ich hatte mir meinen Text schon angesehen und wäre fast in Ohnmacht gekippt, als mir klar geworden war, dass ich Lara ganze fünfmal in diesem Stück würde küssen müssen. Fünf! Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Heute Nacht, als ich mich schlaflos in meinem Bett gewälzt hatte, war ich kurz davor gewesen, einfach abzusagen. Doch dann hatte dies mein Stolz doch verboten. Nicht auszudenken, was mir Lara alles an den Kopf geworfen hätte, wenn ich das hier hingeschmissen hätte!

 

Also saß ich jetzt hier und las mir meinen Text des 1. Aktes noch mal durch. Die ersten Sätze konnte ich schon auswendig, doch ich hatte insgesamt 80 Einsätze, und das bedeutete, dass ich noch viel lernen musste.

Lara kam dann ebenfalls hier auf die Bühne und las dann mit gerunzelter Stirn in ihrem Textbuch. Sicher machte auch sie sich Sorgen wegen der ganzen Kussgeschichte. Und nicht zu vergessen die Momente, an denen ich sie an die Hand nehmen musste und wir uns umarmten. Allerdings machten mir nur die Küsse wirklich richtig Sorgen. Nicht nur, dass ich ausgerechnet Lara auf der Bühne küssen musste. Es war auch so, dass ich noch nicht viel Erfahrung im Küssen hatte. Ich hatte vor anderthalb Jahren drei Monate lang eine Freundin gehabt, aber da war es mehr so ein probieren gewesen. Ein bisschen Händchen halten, ein paar schüchterne Bussis, mehr nicht. Und als ihre Familie dann umzog, war der Kontakt auch sofort eingeschlafen. Und jetzt sollte ich also hier auf dieser Bühne ein Mädchen küssen, dass ich nicht mal leiden konnte. Schon beim Gedanken daran wurde mir ganz anders zumute.

Lara und ich waren als erstes dran, allerdings mussten wir da auf dem Sofa sitzen. Ich las die ersten Szenen noch mal durch, denn abgesehen von einer kurzen Pause nach der 1. Szene war ich jetzt eine ganze Weile auf der Bühne, während Lara nach der 1. Szene mit mir eine längere Pause hatte. Das ganze spielte im Haus von Markus. 

"Na, hast du wenigstens schon ein bisschen gelernt?", machte mich Lara sofort an.

"Das wirst du ja gleich merken", gab ich zurück und fühlte mich sofort genervt. Na, das konnte ja heiter werden!

Als es losging, setzten wir uns auf die Couch, wo wir uns gleich umarmen mussten. Klar, ein Theaterstück war ja immer so aufgebaut, dass im 1. Akt die Personen und ihr Beziehungsstatus zueinander gezeigt wurden. Und wir mussten ja nun dieses Liebespaar spielen, und das Publikum sollte natürlich sofort sehen, dass wir uns sehr liebten, um die restlichen Geschehnisse nachvollziehen zu können.

 

Ich fragte mich nur die ganze Zeit, wie ich das mit Lara darstellen sollte. Auch jetzt saßen wir auf der Couch mit möglichst viel Abstand zwischen uns. Ja, so sah doch ein sich liebendes Paar aus! Und wer die Ironie in diesem Gedanken nicht erkannte, war selbst schuld. 

"Fangen wir an!", sagte dann Herr Strobel, und ich wusste, dass ich sie jetzt in den Arm nehmen musste. Ich seufzte noch einmal tief ein und aus, bevor ich den Arm um ihre Schultern legte.

"Sei bloss vorsichtig", zischte mir Lara leise zu.

"Bitte?", fragte ich perplex.

"Na, glaube bloss nicht, dass du diese Situation jetzt irgendwie für einen Blödsinn ausnutzen kannst", fügte sie hinzu.

"Spinnst du? Wir spielen hier Theater! Und wenn du richtig gelesen hättest, hättest du gesehen, dass ich das tun muss!"

"Ich wollte es ja auch nur gesagt haben, Hohenstein!"

 

Die Frau machte mich fertig. Schon wie sie immer meinen Nachnamen betonte, natürlich immer ohne das "von", das ihr scheinbar so zuwider war, dass sie es nicht mal aussprechen konnte.

"Bleib` mal auf dem Teppich! Wenn du das hier nicht kannst, dann solltest du diese AG vielleicht bleiben lassen", gab ich prompt zurück. Nun war sie tatsächlich kurz sprachlos.

"Frechheit", murmelte sie dann aber, und ich konnte leider nichts mehr darauf sagen, weil wir dann wirklich starten mussten. Und das war wirklich hart, denn genau in dieser Szene mussten wir uns schon sagen, wie sehr wir uns doch liebten und auf die Standesunterschiede pfiffen.

Nach dieser Eröffnungsszene mussten Lara und ich von der Bühne, weil dann Katharina als meine Mutter dran kam. Sie würde nun einen Anruf erhalten, in dem eine Nachbarin von uns petzen würde, dass sie Markus und Marie zusammen gesehen hatte. Katharina musste dann Josè auf die Bühne rufen, wo sie einen kurzen und heftigen Dialog abliefern würden, bevor José als mein Vater mich auf die Bühne rufen musste, wo wir dann in einen heftigen Streit gerieten, weil Markus` Eltern die Beziehung zwischen Markus und Marie beenden wollten.

 

Katharina stand schon auf der Bühne und spielte ihre Telefonszene, als Josè auf mich zukam:

"Hey, Sven! Ich darf dich jetzt gleich so richtig zur Schnecke machen!", lachte er.

"Ich weiß, und sicher freust du dich schon darauf", flachste ich.

"Und wie! Was denkst du denn? So eine Chance bekomme ich doch nie wieder!". Wir grinsten uns an. Josè war wirklich in Ordnung, wir hatten uns schon immer recht gut verstanden. Seine Eltern kamen aus Andalusien, und er trug den klangvollen Nachnamen "Ortiz".

Nach dem Streit waren wieder Lara und ich an der Reihe. Lara sah in ihr Textbuch und las:

"Ich kann nicht glauben, dass das deine Eltern gesagt haben!", sagte sie und stand auf. Sie schloss für Sekunden die Augen, um wirklich verletzt zu wirken.

"Ich kann das auch nicht glauben", sagte ich meinen Text. "Aber es kümmert mich nicht"

"Aber du bekommst Ärger!", sagte sie.

"Dann bekomme ich eben Ärger", sagte ich rigoros und stand ebenfalls auf. "Aber ich werde dich niemals aufgeben!"

Lara schaute wieder in ihr Textbuch, weil wir alle natürlich unseren Text noch nicht auswendig konnten.

"Das musst du aber", sagte sie dann ihren Text. "Ich könnte nicht mit dem Gedanken leben, dass du alles für mich aufgegeben hast. Ich gehe jetzt, Markus. Und wir sollten uns besser nicht mehr sehen!". Nun blickte ich kurz in das Buch. Dort stand, dass ich nun ihre Hand halten sollte, sie an mich ziehen musste und sie dann küssen musste. Der 1. Kuss also. Ich stand total verunsichert vor Lara, und auch ihre Augen wanderten zwischen mir und dem Strobel hin und her.

"Am Anfang lassen wir die Küsse mal weg und konzentrieren uns nur auf den Text!", sagte dann der Lehrer und mir fiel ein Stein vom Herzen. Also war ich heute noch mal davongekommen.

Als wir unseren Part gespielt hatten, verließen wir die Bühne und sahen den anderen zu. Jetzt kamen Leonie und Emil dran, die im Stück die Eltern von Marie spielten. Vor der Bühne wartete schon Katharina, die meine Mutter mimte und die gleich ihren Auftritt als versnobte, streitsüchtige Frau hatte und die Eltern der Marie fertig machen musste. Es zeigte, dass die Fronten zwischen den beiden Familien absolut verhärtet waren. Das Stück erinnerte vor allem am Anfang an Romeo und Julia, nur auf modern gemacht. Natürlich war es nicht ganz gleich, gegen später kamen viele Elemente dazu, die ganz anders als bei Romeo und Julia waren. Zwar heirateten Marie und Markus auch heimlich, doch Marie würde dann allerdings irgendwann ihre Familie sehr vermissen und dadurch würde es zum ersten Streit zwischen den jungen Eheleuten kommen.

 

Lara und ich schauten uns nicht mehr an. Wir waren wieder wir selbst und hatten wirklich absolut keinen Grund mehr, jetzt noch mehr als nötig miteinander zu reden.

Die nächste Probe fand dann drei Tage später statt. Wir hatten den 1. Akt bereits gespielt und nun kam die nächste Szene von Lara und mir. Sie musste sich da heimlich zu mir schleichen, denn wir hatten uns laut dem Stück ein paar Tage nicht mehr gesehen, wie es Marie ja auch gewollt hatte. Doch die Liebe zu Markus führte sie dann wieder zu ihm.

 

Während Lara auf ihren Einsatz wartete und ich schon auf der Bühne stand, seufzte ich innerlich auf. Wie schön wäre diese AG gewesen, wenn Lara nicht mitgespielt hätte. Nun war ich immer irgendwie angespannt, weil jeden Moment eine Gemeinheit von ihr kommen könnte. Dabei sollte das hier doch Spaß machen.

Lara kam also als Marie in das Zimmer, und ich musste nun überrascht sein.

"Marie! Was machst du denn hier?", warf ich aus und hoffte, dass ich meiner Stimme einen überraschten Klang gegeben hatte. Und nicht den genervten, den ich bei Laras Anblick empfand.

"Na, was wohl", sagte sie und kam auf mich zu.

"Gott, habe ich dich vermisst", sagte nun Markus zu Marie, und jetzt müssten wir uns eigentlich wieder küssen. Doch auch diesmal ging es dem Strobel noch um den Text und unsere Stimmen, und wir konnten ohne den Kuss weiterspielen. Jedesmal freute mich das erneut, obwohl ich doch genau wusste, dass das nur eine Galgenfrist war. Diese Küsse würden kommen, und wir würden sie auch vor Publikum machen müssen.

"Ich weiß, ich sollte nicht hier sein", sagte dann Marie, und ich dachte nur: Ja, ganz genau! Das Leben wäre so schön...

"Doch, das solltest du. Ich war von Anfang an dagegen, sich auf die Drohung meiner Eltern einzulassen", sagte ich dann aber den Satz, der im Textbuch stand.

"Nein. Es war ein Fehler. Ich mache dich unglücklich", sagte Lara und drehte sich von mir weg.

Nun mussten wir laut Regieanweisung beide traurig schauen, ich nach ihrer Hand greifen und sie so wieder zu mir umdrehen. Ich nahm auch ihre Hand, zum ersten Mal überhaupt, bei der 1. Probe hatten wir auch das noch nicht gemacht. Es war ein seltsames Gefühl, ihre Hand zu halten. Es war echt und doch nicht. Als Lara mich wieder ansah, und ich immer noch ihre Hand hielt, sagte ich meinen Text:

"Ich bin aber viel unglücklicher, wenn du nicht bei mir bist".

"Nein, das ist jetzt nur am Anfang so. Glaube mir, du wirst es irgendwann bereuen", sagte sie dann zu mir, dann musste sie mich umarmen und wieder aus dem Zimmer gehen.

 

Wir umarmten uns zum ersten Mal. Die erste Probe war eine reine Leseprobe gewesen, aber abgesehen von den Küssen mussten wir anfangen, so langsam unsere Spielelemente einzubauen. Ich stand stocksteif da, während mich Lara umarmte. Und während ich sie kaum berührte, legte sie ihre Hand in meinen Nacken. Mir stieg der Duft ihrer Haare in die Nase, als wir uns jetzt so nahe waren. Kokos. Lara benutzte sicher ein Shampoo, dass nach Kokos duftete.

 

Schnell ließen wir uns wieder los, und Lara ging von der Bühne. Ich musste noch bleiben, weil nun gleich José als mein Vater in das Zimmer stürmen würde, nur ein paar Sekunden, nachdem Lara gegangen war.

Zwei Wochen später hatten wir dann auch unsere Kostüme, die wir während des Stückes tragen mussten, und probten ab dem Tag immer mit diesen.

 

So langsam gewöhnte ich mich sogar daran, Lara gleich in der 1. Szene in den Arm nehmen zu müssen, nur geküsst hatten wir uns noch nicht richtig. Bisher war der Strobel damit zufrieden gewesen, dass wir uns da ganz kurze Bussis gegeben hatten, die nur selten auf dem Mund landeten, sondern immer irgendwo daneben.

Aber der Tag, an dem das nicht mehr ging, musste ja kommen. Und anscheinend war das heute der Fall. Wir waren vor dem ersten Kuss in unserer 2. gemeinsamen Szene. Lara hatte gerade gesagt, dass sie mich verlassen würde, damit ich keinen Ärger bekäme. Wieder hatten wir uns ein verkniffenes Küsschen in den Mundwinkel gegeben, als Herr Strobel uns unterbrach:

"Sven, Lara, ich weiß, dass es wahnsinnig schwer ist, mit jemandem ein Liebespaar spielen zu müssen, mit dem man ansonsten kaum Kontakt hat. Und ihr macht eure Sache schon sehr gut, aber über die Küsse müssen wir jetzt doch mal reden. Ihr müsst dem Publikum vermitteln, dass ihr euch wahnsinnig liebt. Markus würde eher den Streit mit seinen Eltern in Kauf nehmen, als Marie aufzugeben, und Marie macht sich lieber auf ein gebrochenes Herz bei sich gefasst, als dass Markus Ärger bekommt. Versteht ihr? Dieses Gefühl müsst ihr noch stärker rüberbringen, und wenn ihr da bei den Küssen beginnt, ist das schon ein großer Schritt. Vergesst nicht, dass ihr jetzt nicht Sven und Lara seid. Ihr seid Marie und Markus, und die lieben sich abgöttisch. Ja?"

 

Lara und ich hatten während dieser gesamten Rede vom Strobel auf den Boden oder aus dem Fenster gesehen. Mir war das so peinlich, dass nun genau dieser Punkt angesprochen wurde, vor dem ich Bammel hatte. Wie sollte ich denn glaubhaft darstellen, dass ich dieses Mädchen liebte? Wie sollte ich eine Lara Luther so küssen, dass die anderen dachten, dass wir unzertrennlich sind? Aber ich antwortete dann:

"Ja. In Ordnung", bevor ich versuchte, diesen dicken Frosch in meinem Hals wegzuräuspern. Lara ging es wohl ähnlich, denn sie rannte noch einmal an ihre Wasserflasche und trank einen kräftigen Schluck, bevor sie zurück kam. 

Als Lara wieder bei mir stand, sagte Herr Strobel:

"Wir fangen noch mal auf Seite 19 oben an. Lara sagt >Ich könnte nicht mit dem Gedanken leben, dass du alles für mich aufgegeben hast. Ich gehe jetzt, Markus. Und wir sollten uns besser nicht mehr sehen!<, ja? Und versucht, da ein bisschen mehr Gefühl reinzulegen. Denkt daran, ihr seid Schauspieler und müsst euch in eure Rollen einfühlen". Ich spürte die Blicke der anderen im Nacken und wurde immer nervöser. Auch Lara schien aufgeregt zu sein, denn sie räusperte sich noch einmal, bevor sie ihren Text sagte:

"Ich könnte nicht mit dem Gedanken leben, dass du alles für mich aufgegeben hast! Ich gehe jetzt, Markus. Und wir sollten uns besser nicht mehr sehen!"

Und dann war es soweit: Wir mussten uns küssen. Und diesmal also nicht wie bisher, sondern "professioneller". Im Raum wurde es ganz still, und ich ahnte, dass wir nun die Aufmerksamkeit der gesamten Truppe auf uns hatten.

 

Ich sah Lara an und musste mir vorstellen, dass sie Marie war und ich sie liebte. Ich musste sie küssen und da viel Gefühl hineinlegen. Lara sah mich ebenso unsicher an. Wann hatte ich sie je so unsicher gesehen wie in den letzten fünf Minuten? Es kam mir so vor, als stünden wir ewig so regungslos auf dieser Bühne, die Sekunden dehnten sich zu gefühlten Stunden aus. Und als mir das bewusst wurde, kam ich ihr dann näher. Und zum Glück zog sie ihren Kopf nicht zurück, sondern war sich wohl ebenfalls klar, dass wir das hier spielen mussten. Wir hatten keine andere Wahl.

Und dann berührten sich unsere Lippen. Natürlich wollte ich mich reflexartig wieder zurückziehen, doch ich besann mich gerade noch, dass das jetzt nicht mehr ging.

 

Ich hatte diesen Gedanken noch nicht ganz ausgedacht, als ich mir ihrer Lippen auf den meinen richtig bewusst wurde. Sie fühlten sich sehr gut an, waren warm und zart, und sie lagen so sanft auf meinen, dass es mich zu kribbeln begann. Ich spürte ihre Wärme überall dort, wo sie mich berührte und stellte fest, dass Lara gut schmeckte. Mein Magen zog sich aufgeregt zusammen und mir stieg ihr Duft in die Nase, der auf mich in diesem Moment noch betörender als sonst wirkte. Und ich hatte mit einem Mal überhaupt keine Eile mehr, diesen Kuss zu beenden. 

Als wir uns wieder voneinander lösten, sah mich Lara mit großen Augen an. War sie genauso überrascht wie ich? Oder schockiert? Ich konnte das überhaupt nicht einschätzen, wusste nur, dass ich völlig durcheinander war. Ich hatte weiß Gott nicht erwartet, dass Lara so wunderbar küssen konnte.

Während wir uns noch anstarrten, hörte ich Herrn Strobels Stimme:

"Das war klasse! So müsst ihr es machen, dann kauft euch das Liebespaar jeder ab!". Ich sah ihn verwirrt an. Ach ja richtig, wir waren hier ja auf einer Bühne...

"Okay", sagte ich deshalb nur einsilbig, und Lara fügte hinzu:

"War das auch von der Länge in Ordnung oder sollten wir das... länger machen?". Ich warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Hatte sie das gerade wirklich gefragt?

"Das ist gut so", antwortete ihr unser Lehrer, dann ging das Stück weiter.

Vor der nächsten Probe war ich unglaublich nervös. Ich hatte es mir nicht sofort eingestanden, aber der Kuss von Lara hatte mich völlig durcheinander gebracht. Ob es ihr ähnlich ging, wusste ich natürlich nicht, und wahrscheinlich war es eh total blöd von mir, auch nur mehr als einen Gedanken an Lara zu verschwenden, aber zumindest triezte sie mich in den letzten Tagen nicht mehr so in der Schule. Vielleicht hatte ich aber auch nur Schonfrist, so lange wir hier ein Liebespaar spielen mussten.

 

Als wir allerdings heute auf der Bühne standen, machte auch sie einen nervösen Eindruck.

"Was ist denn los?", fragte ich sie frei heraus, weil sie kaum ruhig stehen konnte.

"Nichts", sagte sie recht barsch.

Ich sah sie dann recht zweifelnd an, und sie sah das wohl, denn plötzlich fügte sie noch hinzu:

"Ach, es ist wegen Bio. Nächste Woche schreiben wir diese blöde Klausur und ich kapiere diese Vererbung nicht". Deshalb war sie nervös? Wegen Bio? Und nicht, weil wir uns wieder küssen mussten und das beim letzten Mal so... anders gewesen war? Ich konnte es nicht verhindern, aber ich fühlte eine leichte Enttäuschung in mir aufkriechen. Da machte ich mir tagelang Gedanken wegen unseres Kusses, war deshalb völlig durch den Wind, und sie hatte keine anderen Sorgen als diese Bio-Klausur? Das war ja klar gewesen. Und ich hätte mir das auch denken können. Ich schalt mich einen Dummkopf, dass ich da ganz anderes hineininterpretiert hatte und hörte mich dann sagen:

"Wenn du Probleme mit der Vererbung hast, kann ich dir das noch mal erklären".

 

Hallo?! Hatte ich das wirklich gesagt? Wo war der Eimer mit eiskaltem Wasser, in den ich meinen Kopf stecken konnte?

Lara sah mich erstaunt an, und sicher würde ich jetzt gleich von ihr eine kalte Dusche in Form einer Auslachtirade oder sonstiges bekommen. Doch nichts dergleichen geschah.

"Du würdest mit mir lernen?", fragte sie nach.

"Ja, warum nicht", sagte ich. Warum nicht! Es gab ungefähr tausend Gründe, warum wir beide nicht zusammen lernen sollten, aber davon sagte ich natürlich nichts. "Ich meine, vielleicht kann ich dir ein bisschen helfen, so schwer ist das Ganze nicht".

"Für dich vielleicht", sagte sie.

"Ich bin mir sicher, dass du das auch auf die Reihe bekommst. Wie wäre es mit heute mittag? Ich komme zu dir...", sie unterbrach mich erschrocken.

"Oh nein, du kommst nicht zu mir!", sagte sie. "Ich meine, ich würde dann natürlich zu dir kommen, wenn du dir die Zeit schon für mich nimmst". Ich hatte ihren anfänglichen Schrecken bemerkt, doch sie hatte sich so schnell wieder im Griff, dass ich mich auch getäuscht haben könnte.

"In Ordnung. Gegen 15.00 Uhr?", fragte ich.

"So früh kann ich noch nicht", sagte sie, "Geht es bei dir auch abends? So um sieben?"

"Sicher, das können wir auch machen", sagte ich und war gar nicht so unglücklich über einen späteren Zeitpunkt, denn so könnte ich noch gut mit meinen Pflanzen experimentieren. Vererbung in der Praxis sozusagen. Wenn Lara das wüsste... Doch dann starteten wir mit der Probe, und ich konzentrierte mich auf meinen Text.

Die Konzentration war dann kurz vor unserem 1. Kuss des Stückes wieder weg. Ich war wegen des bevorstehenden Kusses aufgeregt und auch verwirrt. Verwirrt, weil ich es nicht leugnen konnte, dass ich mich freute, Lara zu küssen. Und das hätte ich wirklich niemals für möglich gehalten. Ich versuchte, mich ein wenig zu beruhigen, was aber nur halbwegs klappte. 

 

Als wir uns dann tatsächlich küssten, war ich wieder sofort von ihr gefangen. Ihr Kuss war so gut, dass ich sie näher an mich heran zog. Normalerweise hätte sie sich nun sicher entrüstet von mir entfernt, doch dem war nicht so. Erfreut stellte ich fest, dass auch sie mich fester hielt, und wir liebkosten uns viel länger als letztes Mal, viel länger, als von uns erwartet wurde.  

Als wir uns wieder voneinander lösten, dauerte es ein paar Sekunden, bis ich wieder hier in der Realität war. Und sie lächelte mich so entwaffnend an, dass ich danach meinen Einsatz verpasste. Ich musste sogar einen Blick in das Textbuch werfen, um wieder so einigermaßen hier im Stück anzukommen. Denn keine Ahnung, in welchen Sphären ich herumgeschwebt war, auf der Erde war ich jedenfalls nicht mehr gewesen.

 

Wie gut, dass ich meinen Text schon ganz gut konnte, denn so schaffte ich es doch irgendwie, durch diese Probe zu kommen.

Am Abend saß Lara dann tatsächlich in meinem Zimmer. Die Begrüßung war seltsam gewesen, sehr wortkarg. Sie schien sich nicht wohlzufühlen, wahrscheinlich fand sie es schrecklich, dass es ausgerechnet ich war, mit dem sie hier lernen musste.

 

Lara hatte ihre Biosachen herausgekramt, und ich fragte nun:

„Okay. Was für ein Problem hast du denn jetzt?“.

„Mir ist einfach nicht klar, wie das ist mit den dominanten Genen ist. Müssten da nicht schon längst alle, sagen wir, roten Haare von der Bildfläche verschwunden sein? Ich kapier das einfach nicht!“. Aha, das war also das Problem.

„Sieh` mal, es ist richtig, das rot rezessiv ist. Aber wenn jetzt zwei Menschen, sagen wir ein reinerbiger schwarzhaariger Mann und eine reinerbige blonde Frau…“, ich stockte. Denn ganz zufällig hatte ich unsere Haarfarben genommen, um mein Beispiel zu erklären. Auch sie sah auf meine Haare, so dass ich schlucken musste. Ich räusperte mich und sprach weiter: „Also, wenn diese beiden Menschen ein Baby bekommen…“, wieder musste ich schlucken und bemerkte, dass meine Wangen ganz heiß wurden. Wie peinlich war das denn bitte! Ich machte schnell weiter.

„Wenn die also ein Baby bekommen, dann ist das schwarz dominant und das blond rezessiv. Das Baby würde also schwarze Haare bekommen. Aber: Das Baby trägt die Gene für beide Allelen in sich, das heißt, es ist heterozygot. Bei der zweiten oder dritten Generation können so auch die Erbinformationen aus vorigen Generationen wieder zum Vorschein kommen, weil sie in den Genen weitergegeben wurden. In unserem Beispiel könnte also das schwarzhaarige Baby, wenn es selbst mal ein Kind hat, ein blondes Kind bekommen. Weil es diese Information der Mutter in sich trägt. Hier, die Grafik im Buch zeigt das anhand von rot und weiß, rot ist hier die dominante Farbe", ich schlug das Buch auf der Seite auf, in der die Grafik gezeigt wurde.

"Du siehst anhand dieser Grafik, dass sich in der 3. Generation die rezessive weiße Farbe einmal durchsetzt, obwohl die 2. Generation nur aus dem dominanten rot besteht. Und so ist das eben auch bei uns Menschen".

„Jetzt weiß ich, wo mein Denkfehler lag! Ich habe gedacht, wenn die dominante Farbe vererbt wurde, die rezessive dann überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Aber die wird ja in den Genen gespeichert und kann dann so immer wieder zum Vorschein kommen. Richtig?“. Sie sah mich mit großen Augen an.

„Richtig“, sagte ich und freute mich, dass ich ihr das so schnell hatte erklären können. Und auch sie lächelte mich nun an.

"Danke", sagte sie dann plötzlich und ich versank in ihren blauen Augen. Sie bemerkte das natürlich und fuhr sich mit ihrer Hand verlegen durch ihre blonde Mähne. Wo waren wir stehen geblieben? Ach, ja. Sie hatte sich für meine Hilfe bedankt. Also sagte ich:

"Ach, nicht der Rede wert. Mir macht das Thema Spaß und ich schwafel da auch gern darüber. Wenn du also noch irgendwelche Fragen hast, dann kannst du mich gerne fragen". Sie schmunzelte tatsächlich.

"Ich glaube, im Moment habe ich keine Fragen mehr", sagte sie dann. "Aber wenn doch noch mal Bedarf bestehen sollte, komme ich wieder auf dich zu".

"Gut. Denkst du, du bist für die Klausur vorbereitet?", fragte ich sie, und wir gingen noch mal die Themen durch, die drankommen würden. Sie schien nun tatsächlich auf einem guten Stand zu sein. Kurz darauf ging sie dann auch nach Hause.

Als ich mich am nächsten Morgen dann beim Frühstück machen an der Pfanne verbrannte, weil ich so durcheinander war, wusste ich, dass etwas geschehen musste.

 

Ich verrannte mich total in was, was niemals sein würde und was ich mir sicher auch nur einbildete. Und um dem ganzen ein Ende zu setzen, und bevor ich mich noch vor Gedankenlosigkeit richtig verletzte, würde ich von nun an Lara aus dem Weg gehen. Denn sie würde mich immer für den Idioten halten, für den sie mich von Anfang an hielt, und man sah ja, dass alle Initiative immer von mir aus kam. Sie war so schnell wieder verschwunden gestern Abend, und sie wäre sicher nie auf die Idee gekommen, mich zu fragen, ob ich mit ihr lernen würde. Dabei war es eigentlich der ganzen Klasse klar, dass ich in Bio gut war.

 

Nein, wir würden zwar dieses Theaterstück spielen, aber mehr war dann auch nicht mehr.  

Es war eine Woche später, und ich hatte meinen Vorsatz ganz gut umgesetzt, auch wenn mir das schwer gefallen war. Immerhin küssten wir uns nach wie vor bei den Proben, und da konnte ich eben dann doch manchmal nicht zwischen Probe und Realität unterscheiden. Aber spätestens, wenn ich mir wieder klar machte, wie wenig Sinn diese Schwärmerei machen würde, bekam ich wieder einen klaren Kopf.

 

Es war ein warmer Tag gewesen und ich erledigte gerade die letzten Aufgaben im Garten. Als ich gerade unsere Sprinkleranlage starten wollte, sah ich, dass Lara da stand. Und mich ansah.

"Wie lange stehst du schon da?", fragte ich unsicher und versuchte, mein aufgeregt klopfendes Herz zu beruhigen.

"Noch nicht so lange", murmelte sie und kam näher. Wie sie da auf mich zukam, konnte ich mich kaum an ihr satt sehen. Sie war so schön. Ihre Haare, das Kleid an ihr, diese Augen, der Mund... Lass es, Sven!, rief ich mich selbst zur Ordnung. Das brachte doch alles nichts.

"Und was machst du hier?", fragte ich sie, während mir siedend heiß einfiel, dass ich hier den ganzen Mittag in der Sonne gearbeitet hatte und sicher nicht mehr wie frisch geduscht duftete. Verdammt. Da ich mein T-Shirt irgendwann ausgezogen hatte, bekam sie meinen männlich-animalischen Duft ungehindert ab, und ich wollte im frisch gedüngten Boden versinken.

"Ich...", stammelte sie los und musterte mich von oben bis unten. Oje, das war kein gutes Zeichen. Was dachte sie jetzt wohl? 

"Ja?", fragte ich deshalb unsicher nach.

"Ich... möchte mich bei dir für deine Hilfe bedanken", sagte sie dann. "Ich habe eine unglaubliche 2 in der Bioarbeit geschrieben"

"Das freut mich", gab ich zurück und schluckte. Sie hatte sich bedankt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass das der einzige Grund war, weshalb sie hier aufgetaucht war.

"Und du hast bestimmt deine 1 in der Hand gehalten, oder?", sprach sie weiter.

"Naja...", stammelte ich. Natürlich hatte ich in dieser Arbeit sehr gut abgeschnitten, aber das wollte ich ihr nun sicher nicht unter die Nase reiben.

"Nur keine falsche Bescheidenheit", sagte sie dann.

"Und ich dachte, du hältst mich für einen Angeber"

"Ja, da habe ich wohl falsch gedacht". Ich starrte sie an. Was hatte sie gerade gesagt? "Und ich weiß jetzt auch, woher du dein unglaubliches Wissen in Bio hast", sagte sie und sah sich in dem Garten um.

"Ja. Langweilig, was? Während also andere Jungs ihre Körper beim Sport stählen, stehe ich im Garten und zupfe Unkraut", sagte ich beißend selbstironisch.

"Während andere Jungs überhaupt nichts im Kopf haben außer irgendwelchen Bällen hinterherzujagen - und damit meine ich nicht nur die Bälle beim Sport - stehst du hier und züchtest neue Pflanzenarten", sagte sie, und ich konnte eine gewisse Bewunderung aus ihrer Stimme heraushören.

"Woher weißt du das?", fragte ich rau. Ich war so nervös. Und sie vertiefte diese Nervosität noch, indem sie ein paar Schritte auf mich zu kam. So weit, bis wir uns fast berührten.

"Ist das so wichtig?", fragte sie leise, und ihre Stimme hatte einen unglaublich schönen Klang angenommen.

"Ich weiß nicht. Sag du es mir", antwortete ich und starrte sie an.

 

Sie sagte sekundenlang nichts. Sekunden, in denen wir uns nur ansahen. Doch dann begann sie leise zu sprechen:

"Sven, ich habe dir unrecht getan und das tut mir leid. Ich habe dich angegriffen, immer und immer wieder, obwohl du nicht das Geringste falsch gemacht hattest. Du sollst wissen, dass meine Eltern viel Pech im Leben gehabt haben und wir... naja, wir sind nicht reich. Wir mussten hierherziehen, weil wir unser altes Haus verkaufen mussten und es zur Zeit in meinem alten Wohnort einfach nichts Bezahlbares für uns gegeben hatte"

"Lara, du musst mir das nicht erzählen", warf ich ein. Ich fühlte mich geehrt, dass sie mich so ins Vertrauen zog, doch ich merkte, dass ihr das schwer fiel und ich wollte nicht, dass sie sich unwohl fühlte.

"Doch. Das muss ich erzählen, ich möchte, dass du weißt, weshalb ich so ekelig zu dir war"

"Das ist doch Schnee von gestern", sagte ich.

"Mir ist das aber wichtig", sagte sie und ich nickte leicht, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich sie nicht mehr unterbrechen würde.

Sie atmete noch einmal tief ein und aus, bevor sie weitersprach:

"Du kannst dir wahrscheinlich nicht vorstellen, wie es ist, wenn alles in unerreichbare Ferne rückt. Smartphone, Markenklamotten, Urlaub... das alles war für uns unbezahlbar. Und ich kam mir so ausgeschlossen vor. An meiner alten Schule war das besonders schlimm, und als wir hierhergezogen sind, habe ich gedacht, dass ich nun neu anfangen kann. Am Anfang klappte das auch ganz gut, ich habe schnell gemerkt, dass hier nicht dieser enorme Markendruck herrscht. Aber dann habe ich von Steffi erfahren, dass ihr reich seid, dass ihr die Firma habt. Und dass du ein waschechter Graf bist. Und ich habe so Angst bekommen, dass der Ärger von neuem losgeht, dass ich angefangen habe... na ja, das weißt du ja", sagte sie und senkte ihren Blick. Ich schluckte. Endlich wusste ich, warum das angefangen hatte. Steffi war ihre Nebensitzerin, und die beiden hatten sich befreundet. Und die hatte ihr also mal brühwarm erzählt, dass uns diese Firma gehörte. 

"Ich finde es schlimm, dass du diese Erfahrung gemacht hast. Geld sollte nur insofern eine Rolle spielen, dass man eben leben kann. Andere Dinge sind viel wichtiger. Wenn ich etwa nicht mehr gärtnern könnte, würde mich das vermutlich härter treffen, als wenn wir plötzlich kein Geld mehr hätten. Von der Persönlichkeit eines Menschen, die eh unbezahlbar ist, reden wir ja gar nicht erst". Nun war es Lara, die mich mit großen Augen ansah, und ich wunderte mich selbst, dass ich das so offen zu ihr gesagt hatte.

"Ja, dass du so denkst, ist mir jetzt erst richtig klar geworden, als ich dich besser kennenlernen konnte. Aber du hast auch davor niemals eine blöde Bemerkung darüber gemacht, dass ich keine Markenklamotten trage, während ich immer so dämliche Anspielungen auf euer Geld gemacht habe. Und dann hast du auch noch Bio mit mir gelernt, einfach so, nur, um mir zu helfen, und da habe ich mich nur noch geschämt, dass ich immer so biestig zu dir gewesen bin".

"Du musst dich nicht schämen", sagte ich zu ihr.

"Aber ich schäme mich, weil ich dich so falsch eingeschätzt hatte. Denn du bist so anders. Anders als alle Jungs, die ich kenne", gab sie zurück.

"Ist das nun gut oder schlecht?", fragte ich aufgeregt und sah sie gespannt an.

Notenbild ist verlinkt und führt zu einem Video.

Achtung: Durch den Klick auf das Bild kommt ihr auf eine andere Homepage!

"Absolut gut", antwortete sie. Und dann kam sie näher und küsste mich.

 

Und obwohl wir uns in dem Theaterstück schon oft geküsst hatten, war das hier ganz anders. Das war echt, hier küsste Lara Sven, hier waren wir wir selbst. Mir rauschte das Blut in doppelter Geschwindigkeit durch meine Adern, mein Herz klopfte wegen der erhöhten Anstrengung hart an meine Brust.

Als sie sich wieder von mir löste, schlug ich meine Augen auf und sah sie an. Sie lächelte.

"Du weißt aber schon, dass wir hier keine Probe haben", versuchte ich zu scherzen, um meine Nervosität zu überspielen.

"Ja, das weiß ich", gab sie zurück. Wir hielten uns immer noch, es war, als könnten wir uns jetzt auf keinen Fall loslassen, um uns nicht wieder zu verlieren, jetzt, da wir uns gefunden hatten.

"Und du hast mich trotzdem geküsst", stellte ich weiter fest. Ihr Lächeln vertiefte sich.

"Weil ich dich mag, Sven", sagte sie zu mir. "Du gehst mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Und du bist mir in den letzten Tagen richtig aus dem Weg gegangen, wir haben überhaupt nicht mehr miteinander geredet, nur noch unseren Text in dem Stück. Ich hatte nur noch Kontakt mit Markus, nicht aber mit Sven, und da habe ich erst richtig gemerkt, wie sehr ich dich mag, weil ich Sven so furchtbar vermisst habe". Wieder schluckte ich hart und ich fragte mich, ob das hier nur ein schöner Traum war. Der sich allerdings verdammt echt anfühlte, dass musste ich ja zugeben. Wieder klopfte mein Herz so schnell, und ich musste mich erst ein wenig zur Ruhe rufen, bevor ich sagte:

"Und ich mag dich"

Nun zog ich sie in meine Arme und küsste sie. Lara erwiderte den Kuss sofort, und diesmal waren wir nicht so zurückhaltend wie bei unserem ersten Kuss. Schon allein das Wissen, das sie mich ebenso mochte wie ich sie, machte mich mutiger. Und es war wundervoll, sie in meinen Armen zu halten und ihr so nahe zu sein.

Weil meine ach so netten Schwestern am Fenster im Esszimmer standen und uns kichernd beobachteten, gingen wir dann in mein Zimmer. 

 

Als wir das Zimmer betraten, sah sich Lara ganz genau um.

"Mir ist beim letzten Mal gar nicht so richtig aufgefallen, in was für einer grünen Oase du hier wohnst", meinte sie dann.

"Naja, es müssten noch ein paar Grünpflanzen mehr sein", meinte ich, "Ich versuche gerade, einen Jasmin aus Ägypten zu ziehen, eine Pflanze, die mir meine Eltern von ihrer letzten Reise mitgebracht haben, aber die ist noch zu klein. Aber wenn sie soweit ist, möchte ich die ebenfalls hier drin haben. Zumindest so lange, bis sie dann zu groß ist und raus in den Garten muss", erklärte ich ihr.

"Beeindruckend", sagte sie nur und blickte zu meinen Gartenbüchern hinüber. "Wirklich beeindruckend. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der so mit der Natur verbunden ist wie du"

"Mein Opa ist auch so", sagte ich grinsend zu ihr, "Er ist schuld, dass ich so bin"

"Dann sollte ich mich mal bei Gelegenheit bei ihm bedanken", sagte sie und grinste zurück.

Wir machten es uns auf meinem Bett halbliegend gemütlich, ich hielt Lara von hinten umfangen, während sie sich eng an mich kuschelte.  

„Sven?“

„Ja?“

„Wie sollen wir uns morgen in der Schule verhalten?“, fragte mich Lara.

„Ich hatte nicht vor, das geheim zu halten. Du etwa?“, sagte ich sofort.

„Nein, ich auch nicht“, sagte sie, und sie hörte sich erleichtert an. „Die anderen werden sicher Augen machen, wenn sie uns dann sehen“. Ich lachte auf.

„Mit Sicherheit. Und was wird erst Steffi dazu sagen!“, bemerkte ich.

„Steffi weiß schon, dass ich mich in dich verliebt habe“, gestand mir Lara.

„Das weiß sie schon?“, fragte ich verblüfft. Sie nickte leicht.

„Ich habe sie vor drei Tagen um Rat gefragt, weil ich nicht mehr weiter wusste. Ich war wirklich fertig, weil du mir permanent aus dem Weg gegangen bist. Und ich musste jemanden fragen, was ich machen soll, also habe ich es Steffi erzählt. Ich werde wohl nie ihr Gesicht vergessen, nachdem ich gesagt habe, in wen ich mich verliebt habe. DAS hätte ich mal fotografieren sollen!“. Ich schmunzelte.

„Das kann ich mir vorstellen. Das war sicher in etwa so, wie Gustavo aussehen wird, wenn ich ihm morgen früh von uns erzähle. Oder wenn er uns sieht, je nachdem“, sagte ich.

„Ja“, lachte Lara. „Etwas aufgeregt bin ich schon wegen morgen. Du nicht auch?“. Ich hätte gerne gesagt, dass ich die Ruhe in Person war, aber dem war nicht so. Auch ich war aufgeregt.

„Doch, schon ein bisschen“, gab ich also zu.

„Dann bin ich ja beruhigt. Wenn selbst der gelassenste Mensch, den ich kenne, nervös wird, dann darf ich auch nervös sein“

„Na, so gelassen war ich auch nicht immer, wenn wir uns gezofft haben!“, protestierte ich grinsend.

„Das stimmt allerdings!“, lachte Lara und drehte sich zu mir um, um mir einen Kuss zu geben. Es war ein kurzer Kuss auf den Mund, und mir war er entschieden zu kurz, weshalb ich sie noch mal an mich zog, als sie sich schon wieder von mir gelöst hatte.

 

Ich hätte stundenlang so weitermachen können, denn ich hatte mich total in sie verliebt.

Erst gegen 22.00 Uhr machte sich Lara auf den Nachhauseweg.

"Soll ich dich echt nicht begleiten?", fragte ich sie.

"Nein, ich bin ja mit dem Fahrrad da. In zehn Minuten bin ich zu Hause, das geht schon", antwortete sie.

"In Ordnung, aber sei vorsichtig, ja?", sagte ich.

"Sicher doch. Wir sehen uns dann morgen in der Schule", sagte sie und nahm mich in den Arm.

"Ja. Schlafe gut, meine Süße", sagte ich zu ihr.

"Du auch"

Dann küssten wir uns noch einmal zum Abschied, und ich ahnte da schon, dass die Stunden, bis ich sie wiedersehen würde, verdammt lang werden würden.

Vier Tage später kam ich von meinem Zimmer die Treppe nach unten und freute mich schon auf das Treffen mit Lara. Es war Samstag, und wir wollten uns einen schönen Tag am Strand machen. Da klingelte mein Handy, und ich ging arglos hin, weil ich mit Lara rechnete.

Doch es war nicht Lara. Es war Papa.

"Sven?"

"Ja?". Mir wurde ganz bang ums Herz, denn ich hörte seiner Stimme an, dass er mit schlechten Nachrichten kam. Er sagte einen Moment nichts, dann jedoch hörte ich wieder seine Stimme:

"Es ist leider passiert: Oma ist gestorben", und meine Finger verkrampften sich um den Hörer.

"Wann?", krächzte ich ins Telefon.

"Nach unserer Zeit heute früh um halb sechs. Sie ist friedlich eingeschlafen, wir waren alle bei ihr". Der Schmerz überrollte mich gnadenlos.

 

Oma Pauline lebte nicht mehr.

 

 

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