Madeleine

Sven und ich saßen beim Frühstück, Viola war wahrscheinlich noch nicht mal aus dem Bett gekrochen. Ich wusste nicht, was in der letzten Zeit mit ihr los war. Ständig war sie außer Haus oder lungerte im Keller herum, das war nicht mehr normal. Was aber besonders auffiel, war, dass sie oft so spät ins Bett kam, dass sie morgens wie gerädert in der Schule saß. Dabei hatten wir alle drei unseren Eltern versprochen, dass sie sich auf uns verlassen konnten. Und während Sven und ich hier kochten und putzten, verkrümelte sich meine Schwester immer mehr. Auch Sven schien das zu beschäftigen, denn er fragte mich sofort, als ich an den Tisch kam:

"Weißt du, wo Viola steckt?"

"Sie müsste noch oben sein. Warum? Ist etwas?", fragte ich alarmiert. Seit wir wussten, dass es Oma so schlecht ging, waren wir alle immer irgendwie angespannt.

"Und ob!", spie Sven aus. "Ich habe nämlich heute morgen schon einen Anruf aus der Schule bekommen"

"Aus der Schule?", fragte ich.

"Schulleiter Hansen höchstpersönlich! Was sich Viola dabei gedacht hat, frage ich mich wirklich", sagte Sven, und er war wirklich sehr aufgebracht. So sah man ihn selten.

Ich wollte gerade fragen, was los war, als Viola an den Tisch kam und sich seelenruhig an den Pfannkuchen bediente.

"Viola, gibt es da etwas, was du mir sagen willst?", fragte Sven sofort.

"Nö, eigentlich nicht", antwortete sie lapidar.

"Vielleicht klingelt etwas, wenn ich Schulleiter Hansen sage?", bohrte Sven weiter, und ich verfolgte den Schlagabtausch interessiert.

Viola aß jedoch erst mal in Ruhe weiter.

"Viola! Ich habe dich etwas gefragt!", sagte Sven verärgert.

"Ich habe es gehört. Aber du weißt ja eh schon alles, oder? Also, was sollen wir hier noch lange darüber reden!"

"Um was geht es eigentlich?", fragte ich dann, weil ich ja keine Ahnung hatte, was vorgefallen war.

"Oh, unsere liebe Schwester hat gestern Nachmittag gemeint, sie müsste jetzt mal eben in die Schule einbrechen und dort ein paar Frösche freilassen", sagte Sven, ohne den Blick von Viola zu nehmen.

"Was hast du getan?", fragte ich nun Viola ungläubig.

"Ich habe schon einen Anschiss bekommen und brauche euch nicht auch noch als Moralapostel", sagte sie zu uns.

"Aha. Das heißt, du kannst jetzt hier tun und lassen, was du willst, oder was?", fragte Sven.

"Nein, aber ihr seid nicht Mama und Papa", antwortete sie.

"Na, das ist ja fein für dich! Mama und Papa sind gerade nicht da, also brauchst du dich auch nicht mehr an Regeln halten, oder wie?", fragte Sven scharf und Viola seufzte genervt auf.

"Das geht doch nicht!", warf ich dann ein. "Wir haben ihnen etwas versprochen, bevor sie gegangen sind!"

"Und ich habe hier die Verantwortung übernommen!", ergänzte Sven. "Reiß dich doch mal zusammen! Uns geht es allen schlecht, weil wir Angst um Oma haben, aber keiner reagiert hier so wie du!"

"Ja, ich bin eben das schwarze Schaf der Familie"

"Also wirklich, Viola! Das sagt doch keiner, aber ich möchte doch nur, dass wir uns nicht auch noch um dich Sorgen machen müssen!", sagte Sven und hörte sich nun wirklich besorgt an. Und ich konnte ihn sogar verstehen. Er war fast volljährig und fühlte sich auf jeden Fall für uns verantwortlich. Es war sicher nicht leicht für ihn, dass Viola nun solchen Ärger machte.

"Oh, das müsst ihr nicht! Es ist alles im grünen Bereich!"

"Klar, deshalb schläfst du im Unterricht auch immer fast ein", sagte ich.

"Jetzt sagt mir nicht, dass ihr wegen der ganzen Sache nicht auch schlaflose Nächte habt!", meinte Viola.

"Du hast aber die schlaflosen Nächte, weil du dich bis spät Abends herumtreibst und nicht in dein Bett findest", sagte Sven.

"Na, schön. Wenn ihr denn meint", sagte sie. "Ihr scheint ja sehr genau zu wissen, wie es mir geht"

"Das wissen wir eben nicht, du redest ja kaum mehr mit uns, weil du gar nicht da bist", schleuderte ich ihr entgegen. Und das war ein Punkt, der mir wirklich weh tat. Viola und ich waren zwar schon immer wie Feuer und Wasser gewesen, aber wir hatten uns trotzdem vertraut und waren Verbündete gewesen. Das war jetzt alles irgendwie nicht mehr so.

"Herrje, Maddy! Jetzt vertraut mir einfach mal, dass ich das schon hinbekommen werde!"

"Du kannst hinbekommen was du willst, solange du nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt gerätst!", sagte Sven bestimmt.

"Macht euch keine Sorgen", sagte sie nur noch, bevor sie aufstand und nach oben ging, um sich schulfertig zu machen. Und Sven und ich blieben bedröppelt zurück und ich ahnte, dass er sich mindestens genauso viel Sorgen machte wie ich.

Am nächsten Tag erledigte ich meine Hausaufgaben schnell, und schnappte mir das Geschichtebuch. Wir schrieben in vier Tagen eine Klausur, und ich musste eine gute Note bekommen. Nicht, weil ich da so schlecht stand. Im Moment hatte ich in Geschichte einen Notendurchschnitt von 2,4 und war damit recht zufrieden. Aber da ich mir denken konnte, dass Viola die Arbeit völlig verhauen würde, musste wenigstens ich mit einer guten Note nach Hause kommen. Ihre letzten zwei Klausuren hatte sie nämlich völlig in den Sand gesetzt. Und anstatt daraus zu lernen machte sie einfach weiter wie bisher, was ich überhaupt nicht verstehen konnte.

 

Ich konnte nicht glauben, dass ich so gar keinen Zugang mehr zu meiner Zwillingsschwester hatte. Wir teilten ein Zimmer, und ich erinnerte mich zu gerne an Zeiten, an denen wir mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelegen hatten und uns kichernd etwas erzählten. Wie weh das tat, dass das gerade völlig weg war.

"Hey, Maddy", sagte Sven, als er in das Wohnzimmer kam. "Lernst du schon wieder?"

"Hmm", machte ich nur, denn ich war gerade zu sehr in den Absatz über den Limes vertieft. Ja, wir behandelten das römische Reich, was nicht uninteressant war. Aber eben viel zu lernen bedeutete.

"Wo ist Viola?", fragte er mich, und ich blickte auf. Ich warf ihm nur einen Blick mit hochgezogener Augenbraue zu, und ich wusste, dass er mich auch so verstehen würde.

Sven setzte sich aufseufzend neben mich und ich legte das Buch zur Seite.

"Ich bin echt ratlos", begann er dann. "Wir kommen gar nicht mehr an sie ran. Das ist nicht gut. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was das für Auswirkungen haben kann. Und was ist das überhaupt für ein Typ, mit dem sie sich da immer trifft?"

"Ich weiß nur, dass er Felix heißt und irgendwo in einer Bar jobbt. Ach ja, und dass er schon 17 ist, also so alt ist wie du".

"Will der was von ihr?", fragte Sven, ganz besorgter großer Bruder.

"Keine Ahnung. Sie erzählt doch kaum was! Aber sie himmelt ihn, glaube ich, ganz schön an".

"Deshalb zieht man nicht die halbe Nacht um die Häuser und vernachlässigt die Schule. Und schon gar nicht in der Situation, in der wir sind. Als hätten wir keine anderen Probleme"

"Ich weiß", sagte ich. "Ich versuche, heute mal so lange wach zu bleiben, bis sie kommt. Es ist ja Wochenende. Vielleicht kann ich dann mal ein bisschen mit ihr reden", schlug ich vor.

"Gut. Ansonsten werfe ich sie morgen eben mal früh aus dem Bett und stelle sie zur Rede, bevor sie wieder verschwindet. So geht das ja nicht weiter!", bestimmte Sven. Ich nickte zu seinem Vorschlag, dann fiel mir etwas anderes ein.

"Du, Sven", begann ich. "Ich wollte dich auch noch etwas fragen". Mein Bruder sah mich fragend an.

"Es ist so, dass ich mir gerne ein bisschen Taschengeld verdienen würde. Die Buchhandlung sucht noch Aushilfen, die ein bisschen die Kunden in die richtigen Abteile führen, Bücher einräumen, auch mal Kasse machen. Ich würde das gerne machen. Wäre das okay?"

"Das kann ich nicht entscheiden, das weißt du doch. Das müssen die Eltern machen". Mir rutschte das Herz in die Hose.

"Aber... wer weiß, wann Mama und Papa wieder kommen!", sagte ich verzweifelt.

"Warum wartest du nicht einfach, bis sie wieder da sind?"

"Weil sonst der Job schon weg ist!", rief ich erregt. Das wäre eine Katastrophe! 

"Dann rufe Mama doch einfach an. Du kannst ihr den Wisch ja auch schicken, sie unterschreibt und schickt ihn wieder zurück. Fertig", sagte Sven. Ich sah meinen Bruder dankbar an. Warum war ich da nicht selbst darauf gekommen?

"Natürlich! Meinst du, sie macht das?", fragte ich bang.

"Warum auch nicht? Du hast doch gute Noten. Ein paar Stunden jobben in der Woche sind doch da drin", sagte Sven.

"Klar", meinte ich. "Aber kann ich sie in dieser Situation überhaupt mit so etwas belästigen?". Sven seufzte auf.

"Weißt du, wir müssen ja trotzdem irgendwie weitermachen. Wir sind alle fertig, aber wenn du jetzt ein bisschen jobben willst, ist das doch nicht schlecht. Ich bin sicher, dass sehen auch Mum und Dad so".

"Vielleicht hast du recht. Und ich werde ja sehen, was sie sagen", gab ich zurück. Also würde ich mich jetzt bewerben. Und ich betete, dass ich diesen Job bekommen würde.

Ich hatte es wirklich geschafft und die Stelle bekommen, und ich konnte sogar anfangen, noch bevor der Schrieb mit der Unterschrift meiner Eltern wieder da war. Ich musste den Zettel nur schnellstmöglich nachreichen. Mein erster Arbeitstag war dann also schon zwei Tage nach meinem Vorstellungsgespräch. In dieser Nacht hatte ich kaum geschlafen und ging mit zitternden Knien in die Buchhandlung. Ein paar Kunden waren da, aber die kamen ganz gut allein zurecht, deshalb hielt ich nach Adam Ausschau. Im 1. Stock sah ich ihn dann, wie er dabei war, ein Kundengespräch zu führen. Und sofort schlug mein Herz schneller. Wie gut er aussah!

 

Adam Wood war in meiner Parallelklasse, seit er vor einem Jahr mit seinen Eltern aus Amerika hierhergezogen war. Es war vor fünf Wochen gewesen, als er vor mir an der Mensatheke stand. Und wie er da stand und ich ihm so nahe war, schlug mein Herz plötzlich schneller. Seither schmachtete ich ihn aus der Ferne an, aber das sollte sich nun ändern. 

 

Ich bewaffnete mich mit einem Buch und tat so, als würde ich das einräumen wollen, um ihn noch ein bisschen weiter beobachten zu können.

Etwas später war ich wieder im Erdgeschoss, wo ich die Aufgabe bekommen hatte, eine neue Buchlieferung in die entsprechenden Regale zu stellen. Natürlich gab mir das Gelegenheit, immer wieder in die Nähe von Adam zu gehen.

 

Doch plötzlich stand ein Kunde vor mir.

"Arbeiten sie hier?", fragte er mich.

"Äh, ja", sagte ich etwas planlos, weil ich aus meinen Träumereien gerissen worden war.

"Gut. Dann können sie mir vielleicht sagen, wo ich das neue Ratgeberbuch über Landwirtschaft finde. Man hat es mir empfohlen". Ein Ratgeber für Landwirte? Nie davon gehört. Ich räusperte mich. Ich hatte keine Ahnung, wo sich hier so etwas finden ließ.

"Einen Moment, ich frage mal nach", sagte ich dann und ließ den Kunden stehen, um einen Kollegen zu suchen. Der erste Kunde und ich konnte schon nicht helfen!

Ich lief eilig los und wollte schon die Treppe hochstürmen, als ich fast Adam umrannte. Ich war zweierlei geschockt. Zum einen, weil ich erschrocken war, weil er da gestanden war. Zum anderen, weil es ADAM war. Aber er arbeitete hier und so konnte ich endlich mal etwas mit ihm reden.

"Äh... Adam", begann ich, und er sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Klar, ich hatte ihn mit seinem Vornamen angesprochen, und er hatte bis jetzt vermutlich nicht mal gewusst, dass ich existierte. Aber gut, deshalb hatte ich diesen Job ja angenommen, um eben genau das zu ändern.

"Ja?", fragte er kühl und abwartend. Ich konnte es ihm nicht verdenken.

"Ich bin neu hier und ich habe einen Kunden, der einen landwirtschaftlichen Ratgeber sucht, der neu erschienen sein soll. Wo finde ich denn so etwas?".

Adam sah mich von oben nach unten und wieder zurück an.

"Du arbeitest jetzt hier?", fragte er gedehnt. Ich schluckte.

"Ja. Kannst du mir vielleicht helfen?". Die Helfermasche war doch immer gut, oder? Jungs halfen doch gern einem verzweifelten Mädchen. So stand das zumindest immer in den diversen Mädchenzeitschriften drin.

"Sachbücher sind im 1. Stock, rechts, ganz hinten", antwortete er mir dann endlich.

"Danke", strahlte ich ihn an, und wendete mich schon ab, um zu meinem Kunden zu gehen, damit ich ihm diese Information geben konnte.

"Hey", rief mich Adam noch mal zurück.

"Ja?", drehte ich mich um.

"Woher kennst du meinen Namen?", wollte er dann wissen.

"Du bist in meiner Parallelklasse", sagte ich dann nur, bevor ich mich wieder umdrehte und zu dem Kunden ging. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Er hatte mich tatsächlich zurückgerufen! Das war gut. Sogar sehr gut! Das hätte er ja schließlich nicht tun müssen. Aber er hatte es getan. Und ich schwebte wie auf Wolken.

Mein Höhenflug endete schon am nächsten Nachmittag. Ich hatte meine Freundin Maika angerufen, um ihr diese Neuigkeiten zu erzählen und wir hatten uns bei mir getroffen. Jetzt waren wir also in meinem Zimmer und klönten. Zuerst über alles mögliche, die Schule, Klassenkameraden, Mode und dann natürlich kamen wir auch auf Jungs zu sprechen. 

"Stelle dir vor", sagte ich dann, "nachdem ich Adam etwas gefragt hatte und eigentlich schon am Gehen war, hat er mich noch mal zurückgerufen!", erklärte ich strahlend. Maika freute sich mit mir.

"Echt? Was hat er gesagt?", wollte sie wissen.

"Er hat mich gefragt, woher ich seinen Namen kennen würde. Ist das nicht toll?", fragte ich sie und dachte noch einmal an diese wunderbare Situation. Wie er mich mit seinen braunen Augen angesehen hatte!

Doch Maika wurde ernster.

"Was?", fragte sie. "Der weiß nicht mal, dass du in der Parallelklasse bist?". Ich sah sie verunsichert an.

"Anscheinend hat er das bis jetzt noch nicht gewusst, nein", gab ich zu.

"Oh", machte Maika und sah aus, als würde morgen die Welt untergehen. Nun war alle Glücksseligkeit verflogen.

"Aber das ändert sich ja jetzt, oder? Ich meine, ich habe doch genau deshalb diesen Job angenommen!", sagte ich optimistisch. Es sollte zumindest so klingen.

"Klar. Das wird schon", sagte Maika, zwar nicht sehr überzeugend, aber ich wusste, dass sie es gut meinte. Verflixt! War das wirklich so eine Katastrophe?

 

Ich beruhigte mich selbst. Ich war ihm eben bis jetzt noch nicht aufgefallen, aber das würde sich ja jetzt ändern. Denn jetzt waren wir Kollegen. Wir mochten beide Bücher. Also, ich ging davon aus, dass er Bücher mochte, wenn er denn schon in einem Buchladen arbeitete. Und wir konnten jetzt immer reden. Er würde mich besser kennenlernen, und bestimmt dauerte es nicht lange, und dann würden wir uns auch mal privat irgendwo treffen. Wenn ich genug Mut hätte, könnte ich ihn jetzt als Dank für seine nette Hilfe irgendwohin einladen, aber das traute ich mir einfach noch nicht zu. Aber auf jeden Fall konnte ich ihm jetzt zeigen, dass ich ein tolles Mädchen war.

Am nächsten Tag sah ich ihn nach der Schule und sah ihm hinterher. Gott, war Adam süß! Ich musste es einfach schaffen, dass er mich mochte. Ich musste ihm irgendwie beweisen, dass ich diejenige war, mit der er zusammen sein wollte.

Zu Hause jedoch ging es erstmal weniger träumerisch zu. Im Gegenteil, da hatten wir richtigen Ärger an der Backe. Ich räumte gerade die Küche auf, weil Viola mal wieder unterwegs war und Sven im Garten arbeitete. Da es mir nicht egal war, dass mein großer Bruder hier alles wuppen sollte, griff ich ihm unter die Arme, so gut es eben ging. 

 

Plötzlich klingelte es an der Tür.

Ich erschrak, als ich eine Frau ganz in grau und schwarz vor mir stehen sah.

"Ja, bitte?", fragte ich.

"Flora Drösch mein Name, ich bin Gerichtsvollzieherin. Kann ich mit deinen Eltern reden?", fragte mich die Frau. Und mir wurde ganz bang. Eine Gerichtsvollzieherin? Hier?

"Die sind nicht da", antwortete ich voller Angst. Am liebsten wäre ich nach hinten zu Sven gelaufen, um ihn um Hilfe zu bitten.

"Wann sind sie denn wieder im Haus?", bohrte diese fremde Frau weiter, und mir war schon unwohl, ihr zu antworten.

"Das kann noch lange dauern", antwortete ich.

"Das ist schlecht. Ich habe hier einen Pfändungsbescheid", bei diesen Worten fuchtelte sie mit einem amtlich aussehenden Wisch vor meiner Nase herum, "und muss hier ein paar Dinge mitnehmen. Wir haben Mahnbescheide von zwei verschiedenen Gläubigern, die auf ihr Geld warten".

 

Was?!

Ich hatte wahrhaftig nicht jedes Wort verstanden, was sie mir gesagt hatte, aber soviel schon: Diese Frau Drösch war hier, um ein paar Dinge aus unserem Haushalt zu pfänden! Anscheinend hatten wir vergessen, ein paar Rechnungen zu bezahlen, und da fiel mir zumindest ein Schrieb ein, auf dem dick und fett "2. Mahnung" stand. Und ich erinnerte mich vage daran, dass Mama und Papa gesagt hatten, dass wir drei oder vier offene Rechnungen begleichen mussten. Wie es aussah, hatten wir zumindest zwei dieser Rechnungen wohl vergessen. Viola und ich hatten zwar keine Kontovollmacht so wie mein Bruder, aber wir hätten ihn ja auch daran erinnern können. Mist.

"Frau Drösch, unsere Eltern sind nicht da und wir haben nur vergessen, die Rechnungen zu bezahlen. Mein großer Bruder wird sich darum kümmern, versprochen!", sagte ich, doch die Frau ging an mir vorbei und besah sich unsere Möbel.

"Es tut mir leid, aber ich muss meinen Job machen", sagte sie, dann nahm sie uns tatsächlich den Computer und ein Bild weg.

 

Als sie weg war, wusste ich nicht, was schlimmer war. Die Demütigung, dass überhaupt ein Gerichtsvollzieher dieses Haus betreten hatte, oder die Tatsache, dass wir es schlicht vergessen hatten, so dringende Rechnungen zu bezahlen. Und ganz zu schweigen davon, wie wir das unseren Eltern klar machen sollten.

 

Sven und ich waren uns einig gewesen, dass wir ihnen vorerst nichts am Telefon sagten, um ihnen diesen Ärger vorerst zu ersparen. Das reichte später noch, wenn sich hier vielleicht alles wieder ein wenig beruhigt hatte. Und Sven überwies noch am gleichen Tag die offenen Rechnungen, damit das hier nicht noch einmal passierte.

Nach dieser Aufregung schnappte ich mir meine Gitarre und ging hinaus, um ein wenig zu spielen. Das beruhigte mich wieder ein wenig. Musik hatte auf mich schon immer eine positive Wirkung gehabt, und seit ich selbst Gitarre spielte, verstärkte sich dieser Effekt noch.

Und auch wenn ich noch lange nicht perfekt war, konnte ich so langsam auch ein paar schöne Melodien zum Besten geben. Leider konnte ich nicht ganz so lange spielen, weil ich heute wieder Dienst in der Buchhandlung hatte, aber dafür würde ich ja dann wieder Adam sehen. Schön war, dass mein Chef mit meiner Arbeit sehr zufrieden war, und auch mir machte es Spaß, dort zu arbeiten.

Am nächsten Morgen machte ich mal das Frühstück, das meistens ja von Sven gemacht wurde. Er war schon immer ein Frühaufsteher gewesen, im Gegensatz zu mir und Viola, aber heute war ich tatsächlich mal zuerst auf.

 

Ich machte den Pfannkuchenteig, und obwohl ich meinen Eltern oder meinen Großeltern schon oft beim Kochen zugesehen hatte, hatte ich das Gefühl, noch nie etwas auch nur vom Kochen gehört zu haben. Aber irgendwie würde ich es schon hinbekommen. Hoffte ich jedenfalls.

Hm, wie heiß musste die Pfanne eigentlich sein? Es dauerte ganz schön lange, bis der Pfannkuchen mal ein bisschen Farbe angenommen hatte.

 

Ich schaltete die Platte höher, damit das schneller ging.

Kurz darauf kam Sven in die Küche.

"Was riecht denn hier so streng?", fragte er direkt. Verdammt! Jetzt war die Temperatur wohl doch zu stark gewesen, denn der Pfannkuchen war jetzt unten ganz schön verbrannt.

"Mist", fluchte ich leise und drehte die Temperatur wieder nach unten. "Der nächste wird bestimmt besser", sagte ich zu meinem Bruder und hoffte inständig, dass das auch so war.

Nachdem ich es geschafft hatte, tatsächlich ein paar ganz ordentliche Pfannkuchen zu fabrizieren, konnten Sven und ich frühstücken.

"Die Teller von gestern Abend stehen immer noch auf dem Esstisch", bemerkte Sven, und er hatte recht. Viola hatte mal wieder ihren Teil der Arbeit nicht gemacht.

"Ich habe keine Ahnung, was sie wieder gemacht hat gestern Abend. Hier war sie jedenfalls nicht", sagte ich zu ihm.

"Da müssen wir ihr echt noch mal ins Gewissen reden. Man sieht sie ja wirklich kaum mehr, seit alle Erwachsenen aus dem Haus sind".

"Sehe ich auch so. Vorhin hat übrigens Papa angerufen", sagte ich.

"Und?"

"Oma geht es schlechter. Kein Mensch weiß, warum. Es scheint so, als würde sie sich einfach langsam aus dem Leben verabschieden. Opa ist schon das reinste Nervenbündel, hat Papa gemeint. Und Mama sitzt nur noch am Bett von Oma und macht gar nichts mehr, weil sie Angst hat, sie könnte gerade dann nicht da sein, wenn...", ich stockte, so unaussprechlich war das alles. Aber mein Bruder hatte mich natürlich trotzdem verstanden. 

Niedergeschlagen setzten wir uns mit unseren Tellern an den Tisch und aßen dann recht schweigsam.

 

Ich nahm mir vor, dass ich nach der Schule noch mal in meine Bücher schauen würde, um zu lernen. Auch wenn meine Konzentration im Moment nicht die Beste war, so wollte ich mein Versprechen einhalten.

Am Freitag darauf hatte ich wieder Dienst in der Buchhandlung, und inzwischen wusste ich schon immer mehr da. Außerdem hatte ich mich freiwillig gemeldet, die neue Diskussionsgruppe des Literaturvereins zu leiten. Mein Chef hatte mir das zugetraut, weil ich doch recht viel Ahnung von Büchern hatte, und ich war unglaublich stolz. Die Gruppe traf sich zweimal im Monat, das konnte ich neben Schule und dem Job gut machen. 

 

Auch Adam war heute da, und so hatte ich wieder einige Gelegenheiten, ihn sehen zu können. Als wir mit unserer Arbeit fertig waren und das Gebäude verließen, wollte er schon gehen, als ich meinen ganzen Mut zusammen nahm und ihn zurück rief:

"Adam! Warte mal!". Er blieb wirklich stehen, und ich ging zu ihm hin. Oje, jetzt verwandelten sich meine Beine wieder in Wackelpudding! Aber er sah mich mit seinen schönen Augen so intensiv an, dass ich nichts dagegen machen konnte.

"Was gibt es?", fragte er mich.

Ich schluckte und suchte einen Moment nach den richtigen Worten, die sich unter seinem Blick verflüchtigt hatten.

"Äh... ich dachte, weil Wochenende ist... wir könnten doch mal zusammen was trinken gehen?". Mein Hals wurde ganz trocken und ich wartete mit klopfendem Herzen auf seine Antwort.

"Du willst mit mir was trinken gehen?", hakte er noch mal nach.

"Ja, das haben wir uns nach der stressigen Arbeitsschicht heute doch verdient, oder?", antwortete ich. "Und ich habe heute nichts mehr vor"

"Aber ich", sagte er schnell, "Ich kann heute nicht mit dir weggehen". Enttäuschung wollte sich schon in mir breit machen, doch ich gab nicht auf. Auch Maika hatte gemeint, ich musste mich mal was trauen, sonst käme ich nie weiter. Und vermutlich hatte sie recht, obwohl es total schwer war.

"Wie wäre es dann mit morgen Abend?", fragte ich deshalb mutig und sah ihn gespannt an. Bitte sag ja!, flehte ich innerlich.

"Hör` zu, äh...", er stockte, und mir wurde klar, dass er nicht mehr wusste, wie ich hieß. Das verursachte in mir einen gewaltigen Dämpfer, aber ich sagte:

"Madeleine"

"Ja, Madeleine. Hör` zu, ich weiß ja nicht, was du von mir willst, aber ich möchte, dass du mich in Ruhe lässt, ja? Wir arbeiten in der gleichen Buchhandlung und gehen auf die gleiche Schule, aber das war es dann auch schon. Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt". Und damit drehte er sich um und verschwand. Und ich stand stocksteif und einfach nur geschockt da. Und konnte nicht glauben, dass Adam das zu mir gesagt hatte.

Schon auf dem Nachhauseweg musste ich gegen die aufkommenden Tränen ankämpfen. Nun war ich mal mutig gewesen, und dann hatte es nicht das Geringste genützt! Im Gegenteil! Wenn ich nichts gesagt hätte, wäre alles noch normal gewesen. Ich hätte ihm noch Zeit lassen sollen! Und jetzt? Alles war aus.

Als ich endlich zu Hause war, brach ich in Tränen aus. Adam wollte eindeutig nichts von mir! Er hatte mir das ganz deutlich zu verstehen gegeben! Dabei war ich so in ihn verliebt. Was sollte ich jetzt nur machen?

Ich rief Maika an, der ich alles haarklein erzählte. Auch sie war traurig, dass das so gelaufen war, sagte dann aber, dass es doch besser so wäre, weil ich dann wüsste, wo ich dran war. Sie wollte mich aufmuntern, klar. Aber mir half das nicht. Ich litt entsetzlich unter dieser Abfuhr.

 

 

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